Wer baute die Weissenhofsiedlung?
Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus Jan Philipp
Wer baute die Weissenhofsiedlung? Der Oberbürgermeister Stuttgarts? Der Vorsitzende des Deutschen Werkbundes? Oder Ludwig Mies van der Rohe und die anderen Architekten? Bertold Brechts »Fragen eines lesenden Arbeiters« bleiben auch in diesem Fall unbeantwortet. Wer waren die treibenden Kräfte, die den Bau der Siedlung vorantrieben und zu einem guten Ende brachten? Wer führte die Bauten aus? Wer richtete sie ein?
Die beiden letzten Fragen lassen sich schnell beantworten, da der amtliche Ausstellungskatalog »DIE WOHNUNG Stuttgart 1927« diese Gewerke und Firmen neben den Architekten an erster Stelle nennt: Es waren den Bedingungen der Stadt folgend Stuttgarter Bauunternehmer, die herangezogen wurden. Schwierigkeiten bei dieser Begrenzung auf lokale Baufirmen ergaben sich bei manchen Bauten daraus, dass die Firmen keine Erfahrungen mit den modernen, von den Architekten geforderten Baumaterialien und Bauweisen hatten, weshalb es zu Missverständnissen und Verzögerungen kam. Zudem trugen die andauernden Querelen zwischen Mies van der Rohe und Richard Döcker als Bauleiter der Siedlung nicht zu einem reibungslosen Bauablauf bei. Nichtsdestotrotz waren die kurzen Wege innerhalb Stuttgarts Garant für eine sehr zügige Erstellung der Bauten – weniger als sechs Monate Bauzeit und (fast) alles war fertig!
Inneneinrichtung von lokalen Firmen
Auch die Aufträge für die Inneneinrichtung der Weissenhofsiedlung gingen bevorzugt an Stuttgarter Firmen. Vorausgesetzt kann werden, dass hier jeweils die Ideale des Deutschen Werkbundes als Richtschnur für die Beauftragung galten. Manche Firmen wie Zahn&Nopper für Kücheneinrichtungen, Thonet für Stühle und Tische, Walter Knoll für Polstermöbel oder die Flussometer-Klosettspüler aus München waren in fast jeder Wohnung zu finden. Korb- und Gartenmöbel sowie Sonnenschirme lieferte G. Mayer aus Stuttgart. Radio-Anlagen kamen von den in Stuttgart ansässigen Robert Barth und Oskar Hirrlinger. Die Deutschen Linoleumwerke waren gefragt für Boden- und Wandbeläge. Auch die Weberei Pausa A.G. aus der Marienstraße in Stuttgart war aktiv. Alle diese Firmen waren natürlich auch auf der Hallenausstellung in der Gewerbehalle im Stadtgarten vertreten, so dass die Werkbund-Ausstellung DIE WOHNUNG 1927 durchaus ein Werbe- und Konjunkturprogramm für Stuttgarter Baufirmen und Innenausstatter war. Geld gewinnen konnten auch die Erwerber von Losen einer eigens für die Ausstellung eingerichteten Lotterie, die Gewinne von zwei bis 500 Reichsmark versprach.
Radikalen Formensprache: Moderne statt der traditionell eingestellten »Stuttgarter Schule«
Nachdem der Stuttgarter Gemeinderat am 29. Juli 1926 mit 25 Ja-Stimmen, 11 Nein-Stimmen und 6 Enthaltungen dem Projekt des Deutschen Werkbundes zur Ausstellung DIE WOHNUNG zugestimmt hatte, war seitens des Werkbundes schon Mies van der Rohe als künstlerischer Leiter bestimmt worden, seitens der Stadt war die Finanzierung und der Bauplatz auf dem Killesberg gesichert. Überraschend einig war man sich in der Auswahl der Architekten und hinsichtlich der radikalen Formensprache der Häuser. Nachdem die Kämpfe mit der eher traditionell eingestellten »Stuttgarter Schule« zugunsten der Modernen ausgefochten waren, ging es nur noch darum, schnell handlungsfähig zu werden. Formale, stilistische Fragen wurden kaum mehr diskutiert – es ging ums Machen! Es wurde eine Geschäftsstelle für die geschäftliche und organisatorische Durchführung der Ausstellung sowie eine mit allen erforderlichen Vollmachten ausgestattete Bauleitung für die technische und praktische Durchführung der Siedlung eingerichtet.
Verein »Werkbundausstellung Die Wohnung Stuttgart 1927«
Als übergeordnete Organisationsform wurde Mitte November 1926 ein eingetragener Verein »Werkbundausstellung Die Wohnung Stuttgart 1927« gegründet, der am 17. Februar 1928 wieder aufgelöst wurde, da er seine Aufgabe erfüllt hatte. Wie wichtig dieser Verein für das Projekt war, erhellt allein daraus, dass im Ausstellungskatalog alle seine Mitglieder und deren Funktionen aufgeführt werden. Die wichtigsten seien kurz vorgestellt:
Den Vorsitz hatte der seit 1911 amtierende Oberbürgermeister Karl Lautenschlager, der sich nach dem Krieg sehr für Wohnungsbau und Arbeitsbeschaffung einsetze. Gleichwertig neben ihm stand der Industrielle und Politiker Peter Bruckmann als 1. Vorsitzender des Deutschen Werkbunds. Gleichsam als Kontrollorgane dieses erweiterten Vorstands wurden ein Hauptausschuss und mehrere fachliche Ausschüsse in die Vereinssatzung aufgenommen. Aus diesen Ausschüssen bilden sich wiederrum Unterausschüsse, die operativ handelten. Vorsitzender des Hauptausschusses war Lautenschlager, sein Stellvertreter Bruckmann. Mitglieder waren u.a. Mies van der Rohe, Otto Pankok und Technik-Bürgermeister Daniel Sigloch.
Im Technischen Ausschuss saßen neben Döcker, der Architekt Hugo Keuerleber, zwei Bauräte, Dr. Erna Meyer aus München und ein »Fräulein« Zimmermann, die hauswirtschaftliche Beraterin am städtischen Gaswerk war. Erna Meyer verdient besondere Beachtung, denn sie war die wichtigste »Haushaltsexpertinnen« der Weimarer Republik. 1926 legte sie ihr Buch »Der neue Haushalt: Ein Wegweiser zu wirtschaftlicher Hausführung« vor und brachte sich kenntnisreich, vernehmbar und zäh in die funktionale Gestaltung der Grundrisse der Weissenhofhäuser ein.
Die Kaufmannswitwe Ella Gertrud Ehni, die einzige Frau im Vorstand, war zudem Vorsitzende des mit 28 Mitgliedern größten Ausschusses, nämlich dem Frauenausschuss, dem Gemeinderätinnen, Vertreterinnen von Verbänden und politischen Parteien sowie von Arbeitskommissionen angehörten. Ehni war seit dem ersten Weltkrieg als Frauenrechtlerin sehr umtriebig. Sie war Vorsitzende des Verbands Württembergischer Frauenvereine mit 28.000 Mitgliedsfrauen, Stadträtin der Stadt Stuttgart und Landtagsabgeordnete. Keine Frage, dass sie ihr politisches Gewicht in die Arbeit des Vereins, den Bau der Siedlung und der Ausstellungen einbrachte.
Eine rein männliche Domäne war der Wirtschaftsausschuss, in dem ein Hotelier, ein Caféhausbesitzer, ein Bäcker, ein Wirt sowie der Präsident der Handelskammer angehörten. Die Zusammensetzung dieses Ausschusses war ganz auf die Bedürfnisse der Ausstellung und das leibliche Wohl der Besucher:innen ausgerichtet, für die es mehrere Restaurants, einen Bierkeller und einen Weißbierausschank, Bäckereien und Delikatessenläden auf dem Weissenhof und bei den Hallenausstellungen gab. Der »Frauenverein für Trinkerfürsorge« schenkte Milch, Joghurt und Sauermilch an der Kanzleistraße im Stadtgarten aus.
Weitere Mitglieder des Vereins waren Lilly Reich als Verantwortliche für den künstlerischen Aufbau der Hallenausstellung, Willy Baumeister als zuständig für Beschriftung und der Stadtgartendirektor Paul Ehmann. Natürlich gab es eine Geschäftsstelle, ein technisches Büro, eine Presse- und Werbeabteilung und nicht zuletzt auch Buchhaltung und Kasse. Eine Schlüsselposition kam Gustaf Stotz, dem Geschäftsführer der Württembergischen Arbeitsgemeinschaft des Deutschen Werkbundes, als Direktor der Geschäftsleitung des Vereins zu. Er hatte das ganze Projekt ins Rollen und Mies van der Rohe ins Spiel gebracht. Unermüdlich setzte er sich für das Projekt ein, verhandelte, beschwichtigte und vermittelte. Der große Erfolg der Ausstellung, ja das ganze Projekt wäre ohne ihn nicht möglich gewesen. Auch Walter Gropius muss besonders erwähnt werden: Ihm gelang es im Juli 1927, einen Zuschuss des Reichswohnungstypenausschusses, der zur Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau und Wohnungswesen e.V. gehörte, zu erwirken – die Geldsorgen hatte sich damit erledigt, da sich auch Bürgermeister Sigloch zuversichtlich zeigte, die gesamte Geldfrage im Gemeinderat positiv bescheiden lassen zu können.
Namhaftes Publikum bei der Ausstellungseröffnung 1927
Die Arbeit des Vereins »Werkbundausstellung Die Wohnung Stuttgart 1927« war sehr erfolgreich. Zur Ausstellungseröffnung am 23. Juli konnte man stolz das Erreichte präsentieren. Das wird auch dem Schirmherrn der Ausstellung, dem Württembergischen Staatspräsidenten Dr. Wilhelm Friedrich Bazille, und den sieben Ministern, die das Ehrenpräsidium bildeten, gefallen haben. Auch der aus 136 Personen, davon 16 Frauen bestehende Ehren-Ausschuss dürfte zufrieden gewesen sein. Hier hatte der Verein ranghohe Personen gewinnen können, die alle gesellschaftlichen Bereiche abdeckten: Landtagsmitglieder, Frauenvereinigungen, Oberbürgermeister, viele Industrielle, die als Förderer Deutscher Werkbundarbeit sich der Ausstellung verpflichtet fühlten, sodann Professoren der Hochschulen, Museumsdirektoren und Künstler.
Der Verein hatte offensichtlich viel Kraft in den Aufbau eines weit gespannten Netzwerks investiert und Personen an das Ausstellungsprojekt gebunden, die als Multiplikatoren das Werkbund-Projekt überregional bekannt machten. Der hohe Frauenanteil im Verein belegt, dass es tatsächlich in erster Linie um die Wohnung ging, konkret um die Wohnung für die modernen, mobilen und gesundheitsbewussten Großstadtmenschen mit selbständigen, arbeitstätigen Frauen, die ihren Anspruch an zweckmäßige Wohnungen und deren Einrichtung in den Häusern erfüllt sehen wollten. Die von Mies van der Rohe ausgewählten und vom Gemeinderat Stuttgarts bestätigten Architekten, hatten die Aufgabe, diesen Anspruch in Architektur umzusetzen. Somit ließe sich die Weissenhofsiedlung und ihre moderne Architektur aus gleichsam umgekehrter, von innen nach außen gedachter Perspektive als ein Bauprogramm zur Umsetzung funktionaler und wohnlicher Erfordernisse in moderne Architektur bezeichnen.
Risikoreiches Experiment mit großem Erfolg
Brechts »Fragen eines lesenden Arbeiters« wird man angesichts des experimentellen Charakters der Siedlung und der weiten Freiheiten, die man sich gegenüber dem geltenden Baurecht erlaubte, dahingehend beantworten müssen, dass es im Falle der Ausstellung DIE WOHNUNG und der Weissenhofsiedlung tatsächliche alle Beteiligten – vom Bauhandwerker bis zum Politiker, vom Architekten bis zum Juristen – waren, die das risikoreiche Experiment ermöglichten und zu einem großen Erfolg führten.
Literaturnachweise
- Werkbund-Ausstellung DIE WOHNUNG Stuttgart 1927, 23. Juli–9. Okt. Amtlicher Katalog, hrsg. v. d. Ausstellungsleitung, Stuttgart 1927 (Reprint: Schriftenreihe Weissenhof, 2. Band mit einem Geleitwort von Heinrich Klotz, Vorwort von Astrid Debus-Steinberg und einem Nachwort von Franz J. Much, Stuttgart 1988)
- Karin Kirsch, Die Weissenhofsiedlung, Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« – Stuttgart 1927, Stuttgart 1987
- Karin Kirsch (Hrsg.), Briefe zur Weißenhofsiedlung, Stuttgart 1997
Über den Autor
Prof. Dr. Klaus Jan Philipp leitet das Institut für Architekturgeschichte der Universität Stuttgart.