25.08.22
Kommentar: Ute Meyer

Vom Flickenteppich zur Maker-Region

von Ute Meyer

Der Text erschien erstmalig in der ARCH+ Ausgabe 248 zur IBA’27.

Die europäischen Pioniere des Diskurses über Urban Manufacturing oder Productive City finden sich entlang der sogenannten »Blauen Banane«: London und Rotterdam, Brüssel, Zürich und Mailand. Europas polyzentrisches urbanes Netz von England über die Beneluxstaaten, an Rhein und Ruhr, durch die Schweiz bis in den Norden Italiens war schon früher Schauplatz kommender industrieller Entwicklungen. Historische Handels- und Transportwege, Zugriff auf Rohstoffe und Städte als Märkte dienten als wichtige materielle Basis, der resolute Einsatz jeweils neuester Technologie – Mechanisierung, Elektrifizierung, Digitalisierung – bestimmte das Tempo wirtschaftsgetriebener Entwicklungsphasen. In dem engmaschigen Netz aus großen, mittleren und kleinen Städten war der Gegensatz von Stadt und Land weniger ausgeprägt als zwischen großen urbanen Magneten wie Berlin oder Paris und ihrem bäuerlichen Umland. Industrielle und agrarische Produktion blieben nebeneinander bestehen, Menschen kamen und gingen, Infrastrukturen bestimmten die Siedlungslogik unabhängig von wechselnden Leitbildern der Raumordnung. Europas Wirtschaftskorridor ist in Wahrheit ein Wirtschaftsflickenteppich, der von Kanten, ausfransenden Rändern, Löchern und situativer Ästhetik geprägt ist. Im Kontrast zum Gründungsgedanken der 1957 geschaffenen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die die gemeinsame Steuerung von ökonomischen Interessen ins Zentrum dieses Korridors stellte, ist das räumliche Ergebnis vielfach ungeordnet entstanden, oder zumindest unkoordiniert. Doch was den baukulturellen Ansprüchen nicht immer genügt, muss als Reservoir einer zirkulär resilienten Weiterentwicklung begriffen werden, dessen Potentiale durch neue Verknüpfungen, Inbezugsetzungen und Reparaturen des Bestehenden gehoben werden müssen – so auch das Credo der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBAʼ27).

Typisch für die »Blaue Banane« sind Topografie und Siedlungsstruktur sowie Wohlstand und ökonomische Agilität: Das urbanisiert-produktive Netz aus Kreisstädten und Ortschaften in den Flusstälern ist ein fraktales Abbild des großen Teppichs. Und weil dieser an manchen Stellen ein wenig abgetreten ist, setzt die IBAʼ27 zur Generalüberholung an: Veränderte Produktionsweisen, Digitalisierung, neue Mobilitätskonzepte und regionale Ökonomien müssen Herstellungsprozesse in die Stadt zurückbringen – so die Kernthese. Die IBA’27 formuliert ein Plädoyer dafür, Orte zu schaffen, an denen Wohnen und Produktion sich gegenseitig inspirieren und der Zusammenhang zwischen Arbeit und Stadt neu gedacht werden kann. Der anfängliche Schock, den IBA-Intendant Andreas Hofer mit dieser Forderung auslöste, zeigt Wirkung als positiv andauernde Erschütterung. Nach und nach wird deutlich, welches Ziel das Gesetz künftiger Nutzungsmischung haben kann, das die IBA jedem Projekt auferlegt hat: Neue Ausdrucksformen des Städtischen ebenso wie des Ländlichen profitieren von Interdependenzen, gemischten und hybriden Bedingungen. Wenn ein Ort zirkuläre und gleichberechtigte Handels-, Arbeits- und Lebenssysteme ermöglicht, einen Knotenpunkt für Logistik und Datenaustausch bereitstellt, gleichzeitig »grüne Lunge« mit Aufenthaltsqualität für ein Stadtquartier und Modell nachhaltiger Entwicklung im Energie- und Lebensmittelsektor ist, bleibt wenig zu wünschen übrig. Dass dabei im Rahmen des Sonderformates einer IBA der Blick auf neue Gebäudetypologien und Infrastrukturen fällt, ist selbstverständlich; dass zusätzlich mögliche Betriebssysteme und Regelwerke für die neuen Quartiere mitdiskutiert werden, schon weit weniger; dass sich aber durch eine Fülle an Projekten, Plenen und Arbeitskreisen eine semiurbane Metropolgesellschaft von Pleidelsheim bis Filderstadt, von Untertürkheim bis Geislingen lokaldemokratisch selbst neu erfinden könnte, ist ein Effekt, der über die Ursprungserwartung deutlich hinausreicht. Denn: Am Neckar und seinen Zuflüssen leben nicht nur sparsame Bilderbuchschwaben, sondern eine gemischte Stadt-Land-Gesellschaft mit Pässen aus 180 Staaten und mit einem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund von über 40 Prozent. Das ist eine Ressource in einer Region, deren Identität in der Arbeit und im Machen begründet liegt. Die folgenden IBA’27-Projekte stellen vier typische Standorte vor, in denen diese Grundthemen auf Entwicklungsperspektiven des produktiven Miteinanders geprüft werden.

Quartier Backnang West

Flussabwärts des sogenannten Neckarknies in Plochingen ist der Fluss eine Bundeswasserstraße, ein Infrastrukturbauwerk mit Schleusen, Staustufen und Wasserkraftwerken. Über lange Strecken wird der Industriefluss gesäumt von Gewerbeflächen, zusätzlich eingezwängt durch Schnellstraßen und Schienen. Eine schwierige Ausgangslage für die Quartiere im Neckartal, denen häufig der Bezug zum namensgebenden Fluss völlig fehlt – ähnliches gilt für die Seitentäler von Rems und Murr. Backnang-West an der Murr ist daher ein Pilotprojekt, das beispielgebend für das Upcycling untergenutzter Gewerbeflächen am Wasser in der Region sein kann. Aus einem internationalen Wettbewerb gingen Teleinternetcafe mit ihrem Entwurf als Sieger hervor. Sie schlagen für Backnang-West ein »Quartier für alle(s)« vor: Ein Grünraum, die sogenannte ParkAue, verbindet drei Teilquartiere miteinander, die WohnFabrik, den CityCampus und das StadtWerk. Die Teilquartiere sollen je eigene Quartiersidentitäten ausbilden, vereinen aber alle produktive Höfe und begrünte Quartiersplätze, Handwerk, Gewerbe und Forschung, Co-Working-Spaces, soziale und kulturelle Einrichtungen, Einzelhandel und Gastronomie sowie unterschiedliche Wohnformen und Boarding Houses. Selbst wenn nur die Hälfte aller versprochenen Nutzungen auf dem circa 17 Hektar großen Gelände Platz fände, ist die breit angelegte Nutzungsmischung ein völliges Novum im Südwesten. Bei der Umsetzung des Konzepts gilt es, die richtige Balance zwischen Festlegungen und Flexibilität zu finden. Vielleicht hilft dabei ein Blick zu den Nachbarn entlang des europäischen Korridors: In einem Guide haben die sieben Partner des Cities-of-Making-Projekts jüngst ihre Erkenntnisse in einer Pattern-Language herausgearbeitet. Sie umfasst 50 Bausteine und soll die Planung urbaner Produktion in lebenswerten Quartieren systematisch anleiten.[1] Ein Pattern sieht zum Beispiel vor, dass emissionsstarke Produktionen entlang von Infrastrukturen konzentriert werden, um Störungen zu minimieren.[2]

Visualisierung der ParkAue mit Blick zum Murrpark. Bild: Teleinternetcafe / Treibhaus / Buro Happold

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Das Architekturbüro umschichten hat sein Atelier aus einem zweckentfremdeten Hochregallager selbst errichtet. Es ist ein Bestandsgebäude der sogenannten Container City vor den Wagenhallen. Bild: umschichten

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Quartier C1 Wagenhallen

Alternativ hilft auch einfach der Blick über den Zaun. Im IBA-Projekt Wagenhallen wird das Konzept der Maker City im Pop-Up-Modus erprobt. Auf ehemaligen Gleisflächen entstehen im Umfeld eines Kultur- und Veranstaltungszentrums kreative Pilotprojekte an der Schnittstelle zwischen Kulturproduktion, Wohnen und Arbeiten, Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie urbaner Landwirtschaft. Im realen Maßstab soll auf diese Weise für das geplante Rosenstein-Quartier vorab ausprobiert werden, was funktioniert und was nicht. Mit dem Projekt bekommt die Stadt Stuttgart auch eine zweite Chance, die versäumte Möglichkeit von Stuttgart 21 nachzuholen: Die Maker City kann andere Zukunftsbilder für den groß angelegten Stadtumbau im Herzen Stuttgarts liefern. Im besten Fall könnte das IBA-Projekt eine Kurskorrektur vorbereiten, die das Dilemma um das verplante Bahnprojekt durch zeitgemäße Stadtproduktion zumindest in Teilen korrigiert. An dem innerstädtischen Standort wird es darauf ankommen, auch im Anschluss an die geschützte Startphase Bodenspekulation zu verhindern oder zumindest einzudämmen. Stadt und Region müssen dazu zu einem neuen Selbstverständnis finden, das in Analogie zu Mariana Mazzucatos Forderung nach der Rolle des Staates als ermöglichendem Innovationspartner[3] die Vorteile des kommunalen Besitzes des Gesamtareals endlich für eine gemeinwohlorientierte Steuerung der Flächenentwicklung nutzt. Bauherren und Unternehmen, die bereit sind, die Ambitionen der kreativ-inklusiven Klimaschutzstädtebau-Piloten zu verstetigen, werden entsprechende Prozesskompetenz voraussetzen.

Der neue Stöckach

Ähnliches gilt für den »neuen Stöckach«, das zweite zentrumsnahe Projekt zum Thema Produktive Stadt. Mit der EnBW (Energie Baden-Württemberg AG) als Partnerin soll deren Werksgelände in ein lebendiges Stadtteilzentrum umgebaut und -genutzt werden. Auch hier verspricht das Wettbewerbsergebnis einen dezidierten Aufbruch zu mehr »gemischter Stadt«, der allerdings im Umsetzungsprozess gegen wachsenden Druck zu verteidigen sein wird, mehr Wohnraum zu schaffen. Das eingeübte Vorgehen, öffentliche Räume und Einrichtungen in Konversionsarealen schlicht über den Verkauf der erstellten Wohnungen zu sichern, bedarf einer fantasievollen Ergänzung. Sonst werden auch am Stöckach Funktionen wie soziale und Freizeiteinrichtungen, Nahversorgung, Gesundheit und Mobilität letztlich als die weniger renditeträchtigen Flächennutzungen wahrgenommen und aussortiert. Um diesen Effekt an vergleichbaren Standorten zu verhindern, hat die Stadt Wien etwa im Fachkonzept Produktive Stadt[4] eine Palette geeigneter kommunaler Steuerungsinstrumente zusammengestellt. Empfohlen werden unter anderem bauplatzübergreifende Entwicklungsmodelle und Plattformen zwischen bisher getrennt operierenden Wohn- und Gewerbeentwickler:innen. Die Wiener setzen auf Dialog, um Skepsis gegenüber der Verträglichkeit unterschiedlicher Nutzungen abzubauen, Konzepte der Querfinanzierung einzuüben und dadurch den Anteil an Wohnnutzungen zu kontrollieren. Das braucht Zeit und gute Argumente. Die beteiligten Akteure müssen verstehen, warum Städte gemischte Quartiere brauchen und warum Lebensqualität einen langfristigen Wert darstellt. In diesem Sinne wirkt die IBA’27 auch als Aufbauprozess für mehr Kompetenzen und Kapazitäten.

Visualisierung des »Kaskadenplatzes« im Inneren des Areals mit dem zum Kultur- und Mobilitätszentrum umgebauten Bestandsgebäude G30. Bild: Sauerbruch Hutton

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Quartier Neckarspinnerei. Rechts der Batteurbau,im Hintergrund das Ballenmagazin »Pentagon«. Bild: HOS

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Quartier Neckarspinnerei

Im letzten der vier Projekte, der alten Neckarspinnerei in Wendlingen, hat gemeinsames Leben und Arbeiten vor 150 Jahren schon einmal funktioniert. Hier stellt sich die Frage, wie man in dem markanten Gebäudeensemble die alten Strukturen neu interpretieren, die Geschichte weitererzählen und das Gelände mit einer austarierten Nutzungsmischung aus Flächen für lokales Gewerbe und Gesundheitswirtschaft, vielfältige Wohnformen, Kultur und Freizeit reaktivieren kann. Aus Stuttgarter Perspektive liegt die Spinnerei peripher, eingebettet in die von Obst- und Weinbau geprägte Landschaftsidylle des Neckaroberlaufs. Aus regionaler Perspektive ist diese Peripherie jedoch ein bestens erschlossener Teil der Infrastrukturlandschaft aus Straßen-, Wasser- und Schienenwegen, die im Gefüge der polyzentrischen Siedlungsstruktur gleichermaßen Ordnung und Zäsur darstellen. Das Gelände der alten Spinnerei gibt Anlass, über die eigentliche Konversion hinaus ein Ankerprojekt umzusetzen, mit dem Ortsteile und Siedlungsfragmente auf beiden Seiten des Flusses besser auf diesen bezogen und über ihn hinweg mit den umgebenden Landschaftsräumen verknüpft werden können. Das charismatische alte Werksgelände kann als Bezugspunkt dienen, an dem das Selbstbild einer divers-urbanen Stadtgesellschaft früh zelebriert wird. Mit Blick auf den Gesamtanspruch der IBA’27 könnte das Projekt eine Schlüsselaufgabe übernehmen und Begegnung längs und quer zum Fluss als zentrales Thema für die Region setzen, um damit einer authentischen Interpretation des blau-grünen Bandes einen Schritt näherzukommen. Dies könnte der Beginn sein, die Geschichte einer Maker-Region – gebaut auf Vielfalt, Migration und Innovationsbereitschaft – neu zu erzählen.


[1] Siehe citiesofmaking.com/resources (Stand: 6.4.2022)

[2] Siehe citiesofmaking.com/pattern/c9 (Stand: 6.4.2022)

[3] Vgl. Mariana Mazzucato: Das Kapital des Staates – Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum, München 2014 (englisches Original: The Entrepreneurial State, London 2013)

[4] Vgl. Werkstattberichte der Stadtentwicklung Wien Nr. 171: Fachkonzept Produktive Stadt, Wien 2017, www.wien.gv.at/stadtentwicklung/studien/pdf/b008500a.pdf (Stand: 6.4.2022)


Über die Autorin

Bild: IBA’27 / Franziska Kraufmann

Ute Meyer ist Urbanistin und Architektin. Sie arbeitet an der Schnittstelle von Forschung und innovativer Praxis – als Professorin für Städtebau an der Hochschule Biberach und als Mitgründerin von urbanes.land (Stuttgart / Berlin / Zürich). Im Zentrum stehen Entwicklungsperspektiven für Metropolenränder, periphere oder ländlich-urbane Räume. Sie ist Executive Master in Cities der LSE London, Mitglied des internationalen Urban Age Networks und Stiftungsrätin der HfG Ulm Stiftung.

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