22.07.22
ARCH+ zur IBA’27

Stuttgart, die produktive Stadtregion und die Zukunft der Arbeit

Die neue Ausgabe 248 der Zeitschrift für Architektur und Urbanismus ARCH+ ist vollständig der Region Stuttgart und der IBA’27 gewidmet. Das knapp 200 Seiten starke Werk entstand in einer Zusammenarbeit der Berliner ARCH+-Redaktion mit dem Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart und in Kooperation mit der IBA’27. Im Mittelpunkt steht das gesellschaftlich vielleicht vielversprechendste, zugleich aber hochkomplexe und weitreichende Schwerpunktthema der IBA: »Die produktive Stadtregion«.

Viele ehemals prosperierende Industrieregionen haben längst einen wirtschaftlichen Strukturwandel hinter sich. In der Regel rückten Dienstleistungen, Finanzwirtschaft, Kultur oder Tourismus an die Stelle des produzierenden Gewerbes. Am prominentesten Beispiel in (West-) Deutschland – dem Ruhrgebiet – war mit der IBA Emscher Park eine Internationale Bauausstellung zentral beteiligt.


Diese Ausgabe der ARCH+ wurde auch ermöglicht durch eine Förderung des Ministeriums für Landesentwicklung und Wohnen Baden-Württemberg sowie durch die großzügige Unterstützung der IBA’27 GmbH durch ihre Hauptförderer Wolff & Müller, Züblin/Strabag und Würth.


Der anhaltende Wohlstand der Region Stuttgart dagegen speist sich heute wie seit gut hundert Jahren wesentlich aus der Maschinen- und Fahrzeugproduktion. Neue Technologien, makroökonomische Entwicklungen und vor allen Dingen die massive ökologische Krise müssen allerdings als Fanal gelten: Auch der Wirtschaft in der Region Stuttgart stehen tiefgreifende Veränderungen bevor. Dieser Befund stand am Beginn der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27). Er war ein zentrales Ergebnis des 2016 von der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart durchgeführten vorbereitenden Plattformprozesses. Die gut 500 Beteiligten aus Wissenschaft, Planung, Wirtschaft, Politik und Kultur gaben den künftig Verantwortlichen der IBA’27 den Auftrag einer »präemptiven Transformation«.

Veränderungen der Wirtschaftsstruktur sind eine wichtige Gelegenheit, die Verteilung städtischer Funktionssysteme im Raum neu zu denken. In ihrer 2021 erschienenen Ausgabe 244 über Wien hat die Zeitschrift ARCH+ bereits »Das Ende des Wohnungsbaus (als Typologie)« zugunsten einer neuen Nutzungsmischung ausgerufen. Die nach Funktionen aufgeteilte Stadt der Moderne bildet zwar weiterhin die Grundlage der Bauleitplanung in Deutschland; die IBA’27 will nun aber mit einer Reihe durchmischter Quartiere in der Region Stuttgart pragmatische Vorschläge für eine Weiterentwicklung dieses Modells vorlegen. Durch dezentrale, kleinteilige, emissionsfreie Fertigungsprozesse – so eine ihrer vielversprechenden Thesen – könnte dabei auch materielle Produktion eingebunden werden. Einige in dieser Hinsicht beispielhafte Projekte aus dem Portfolio der IBA’27 stellt die ARCH+ im Mittelteil vor: das neu entstehende »Produktive Stadtquartier Winnenden« (JOTT Architekten), die Weiterentwicklung von 110 Hektar Gewerbe und Landwirtschaft unter der Überschrift »Agriculture meets Manufacturing« in Fellbach, die Umnutzung des Krankenhausareals Sindelfingen aus den 1970er Jahren und viele weitere. Ergänzt werden die Projektseiten mit Kommentaren von Wissenschaftlerinnen und Planern wie Markus Schaefer, Andreas Kipar oder Eva Stricker und internationalen Referenzprojekten. Die noch in der Planung befindlichen Vorhaben der IBA’27 werden so mit den Möglichkeiten und Grenzen einer funktional durchmischten Stadt auf der Höhe des internationalen Baugeschehens konfrontiert.

Die Vorstellung ausgewählter Projekte der IBA’27 rahmen zwei weitere Kapiteln der ARCH+: Der erste Teil versammelt eine Reihe von Perspektiven auf Wirtschaftsgeschichte und Stadtentwicklung in der Region Stuttgart. Die verspätete Industrialisierung Württembergs und die Nachwirkungen gezielter obrigkeitsstaatlicher Innovationsförderung ab Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnen Aufsätze von Maik Novotny und Leo Herrmann nach. Kerstin Renz widmet sich dem Stuttgarter Verkehrsbauwerk Charlottenplatz als »Hochamt der autogerechten Stadt«, dessen Planungsgeschichte sich bis in die Zeit des Nationalsozialismus zurückverfolgen lässt. Mit der triumphalen Ankunft der Postmoderne in Stuttgart dank der Prämierung des Entwurfs von James Stirling für die Neue Staatsgalerie 1977 beschäftigt sich Stephan Trüby. Verena Hartbaum diskutiert die IBA’27 als Befriedungsversuch nach den Auseinandersetzungen um das Großprojekt Stuttgart 21 und vergleicht ihre Beteiligungsverfahren mit der in dieser Hinsicht vorbildlichen West-Berliner IBA-Alt 1987. Nicht realisierten Utopien für Stuttgart – von Richard Döckers Hochhausplänen bis zu Wilfried Beck-Erlangs Projekt einer Teilflutung des zentralen Talkessels – widmen sich Katharina Stolz und Klaus Jan Philipp. Den Abschluss des ersten Kapitels schließlich bildet eine »Odyssee« von Elena Markus und Nick Förster entlang der »schmutzigen Ränder« und Übergangsräume, von denen die Region Stuttgart durchzogen ist.

Das dritte Kapitel ergänzt das IBA’27-Schwerpunktthema »Die produktive Stadtregion« um eine Auseinandersetzung mit der »Zukunft der Arbeit«. Zwischen großen polit-ökonomischen Entwicklungen und individueller Alltagserfahrung wird durch diese Optik ein Tätigkeits- und Analysefeld sichtbar, von dessen Facettenreichtum die Beiträge zumindest einen Eindruck vermitteln wollen. Leo Herrmann skizziert in seinem Text den Transformationsdiskurs der vergangenen Jahre – nicht nur im Zusammenhang mit Internationalen Bauausstellungen, sondern insbesondere vor dem Hintergrund von Nachhaltigkeitspolitiken. Ohne eine Anpassung der rechtlich-administrativen Rahmenbedingungen von Planung, so sein Fazit, kann aus dem Bauen heraus kaum eine wirksame Veränderung angestoßen werden. Dem schließt sich Christian Holl mit seinem Text zu regionalen Ausdifferenzierungsprozessen an: Räumliche Teilhabe droht ihm zufolge auch wesentlich an der Bodenpolitik zu scheitern. Drei Gesprächsrunden mit Wissenschaftlerinnen, Planern und Wirtschaftsvertreterinnen diskutieren abschließend aktuelle Transformationsprozesse auf betrieblicher, städtischer und regionaler Ebene. Dabei wird erneut die Sinnhaftigkeit einer räumlichen Durchmischung von Arbeit, Wohnen und Freizeit deutlich: Sie erleichtert beispielsweise die ökologisch notwendige Reduktion des Verkehrsaufkommens. Auch zur Umwertung des weiterhin stark entlang von Genderrollen codierten Verhältnisses von produktiver und reproduktiver Arbeit könnten Architektur und Städtebau mit einer neuen Nutzungsmischung beitragen.

Internationale Bauausstellungen sind einerseits Akteure im regionalen Baugeschehen. Zugleich haben sie aber auch den Anspruch, ihre Themen in internationalen Diskursen um Planung und Architektur zu platzieren und zur Diskussion zu stellen. Die IBA’27 wurde dem von Beginn an durch ein prominent besetztes Kuratorium, regelmäßige Plenen und Veranstaltungsformate gerecht. Mit ARCH+ 248 »Stuttgart, die produktive Stadtregion und die Zukunft der Arbeit« liegt nun zur Hälfte ihrer zehnjährigen Laufzeit auch eine erste umfängliche Publikation vor, die einen baulichen und intellektuellen Zwischenstand der Stuttgarter Bauausstellung der Öffentlichkeit in Deutschland und darüber hinaus zugänglich macht. In enger Zusammenarbeit zwischen ARCH+, IGmA und IBA’27 ist ein überaus dichtes Heft entstanden: Unter die erwähnten Textbeiträge mischen sich Fotostrecken, erratisch glänzende Computergrafiken und nicht zuletzt zahlreiche am IGmA entstandenen Entwürfe von Studierenden – angefangen mit dem suggestiven Covermotiv von Elias Binder. Mit ARCH+ 248 werden einige der komplexen Abhängigkeiten sichtbar, in denen sich die IBA’27 bewegt: Von regionalen Akteurskonstellationen bis zu internationalen Entwicklungen und Transformationsbemühungen – Themen genug für einige weitere Hefte und eine ehrgeizige Publikationsstrategie der IBA’27 in der zweiten Hälfte ihrer Laufzeit.

Über die ARCH+

Die 1968 in Stuttgart gegründete und mittlerweile in Berlin ansässige Zeitschrift für Architektur und Urbanismus Arch+ war nie lediglich an Berichterstattung interessiert. Die Reflexion von Architektur und Stadtplanung aus einem progressiven politischen Selbstverständnis heraus bildet den Kern ihrer inhaltlichen Arbeit. Damit hat sich ARCH+ als eine maßgebliche Stimme im Architekturdiskurs in Deutschland und darüber hinaus etabliert. Oder wie Rem Koolhaas gewohnt markig äußerte: »ARCH+ is the only interesting architecture journal in Germany.«

Die ARCH+ 248 »Stuttgart, die produktive Stadtregion und die Zukunft der Arbeit« kostet 24 Euro (Online-Reader: 20,50 Euro) und kann im Arch+ Online-Shop bestellt werden.

Text: Leo Herrmann

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