05.01.23
Kommentar: Andreas Kipar

Produktive Landschaften: Ein Kommentar zum IBA’27-Projekt »AGRICULTURE meets MANUFACTURING« in Fellbach

Der Beitrag erschien erstmalig in der ARCH+ Ausgabe 248 zur IBA’27.

Das Thema der landwirtschaftlichen Produktion rückt seit einigen Jahren wieder stärker in den Fokus der öffentlichen Debatten. 2019 warnte die Europäische Umweltagentur davor, dass sich der Wert europäischer Ackerflächen im Zuge der Klimakrise erheblich ändern wird: »Die Gesamtauswirkungen des Klimawandels auf die europäische Landwirtschaft könnten zu erheblichen Verlusten für den Sektor führen: bis zu 16 Prozent Verlust des EU-Landwirtschaftseinkommens bis 2050 mit großen regionalen Schwankungen.« Sie forderte weiterhin, dass sich der Sektor an diese Veränderungen anpassen müsse, um eine nachhaltige landwirtschaftliche Produktion zu gewährleisten.[1] Erste und zumeist kleinteilige Lösungsansätze finden sich heute in sogenannten Höfen mit solidarischer Landwirtschaft, Landkaufgenossenschaften oder Öko-Dörfern. Doch gilt es solche Strukturen zu verstetigen, was beispielsweise von der Europäischen Union durch die Förderprogramme der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) unterstützt werden sollte.[2] Leider tragen diese Förderprogramme nun auch zur Entstehung eines agroindustriellen Modells bei, das gerade landwirtschaftliche Großkonzerne stärker bezuschusst und kleinbäuerliche Betriebe verdrängt: Je größere Flächen ein Betrieb besitzt, desto mehr Zuschüsse erhält er. Wir benötigen also europäische Versuchsorte, um uns dem Problem der drohenden Klimakrise und der Verdrängung kleiner Landwirtschaftsbetriebe zu stellen und im interdisziplinären Austausch mit institutionellen, ökonomischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren Lösungsansätze zu erarbeiten. Das IBA’27-Projekt »AGRICULTURE meets MANUFACTURING« in Fellbach, das in einer Nutzmischung urbane Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion mit urbaner Produktion verbinden will, könnte solch ein zukunftsweisender Versuchsort sein, der weit über das lokale Interesse hinausstrahlt. Das 110 Hektar große Projektgebiet liegt im Westen der Stadt Fellbach, zwischen Stuttgart und der Fellbacher Innenstadt. Hier treffen intensiv genutzte Landwirtschaftsflächen mit Gärtnereien, Obst- und Gemüseanbau auf das größte Gewerbegebiet der Stadt. In einem dialogorientierten Planungsprozess will die Stadtverwaltung eine Zukunftsvision für das Areal entwickeln, bei der sich Gewerbetreibende, Landwirt:innen und private Grundstücksbesitzer:innen einbringen sollen. Vorbereitet wird der Prozess unter anderem durch eine Studie, die das Büro berchtold krass space&options dieses Frühjahr erstellt hat.

Luftbild des Projektgebiets »AGRICULTURE meets MANUFACTURING« in Fellbach. Bild: Stadt Fellbach / Niessner Design
Luftbild des Projektgebiets »AGRICULTURE meets MANUFACTURING« in Fellbach. Bild: Stadt Fellbach / Niessner Design

Lang galt das Primat der Stadt, die ihre urbanen Grenzen sprengt und sich ins Umland ausdehnt. Nun erobert die Landschaft die Stadt zurück und durchmischt sie mit Naturräumen. Wenn wir heute die Stadt »umbauen«, sollten wir nicht mehr die ausgedienten Bilder einer funktionsgetrennten Stadt vor Augen haben, sondern einen Hybrid aus Bau-, Frei- und Naturraum. Gerade post-pandemische Städte und Regionen müssen diesen Paradigmenwechsel in Bezug auf neue Infrastrukturen und Freiräume vollziehen und an ihren Rändern produktive, nachhaltig mit Natur kultivierte Landschaften fördern. So entstehen Landschaften, die nicht verbraucht, sondern durch bewusstes Handeln weiter aufgebaut werden – dazu gehört etwa auch die Qualitätssicherung einer Straße oder eines Gewerbegebiets. Mit dem Konzept der produktiven Landschaft wird der Raum zu einem Netzwerk von Beziehungen und neuer Produktivität. Die Kombination von Natur und respektvoller Kultur macht es möglich, Orte für eine teilende Gesellschaft und ein starkes Miteinander zu schaffen. Denn die Landschaft ist eine Vermittlerin, die den öffentlichen Raum strukturiert, die Menschen wieder stärker mit der Natur verbindet und ein gesünderes Leben ermöglicht.

Das Fellbacher Vorhaben verknüpft zwei produktive Sphären – Landwirtschaft und Gewerbe – auf einem Entwurfsgebiet, das auch durch öffentliche Verkehrsmittel gut mit der Großstadt Stuttgart verbunden ist. Es ist ein überschaubarer Laborraum für einen Dialog zwischen lokalen Landwirten, Grundstückseigentümer:innen, Gewerbetreibenden, den städtischen Institutionen und weiteren Akteur:innen. Die Schnittstellen gewerblicher und landwirtschaftlicher Produktion werden dabei integrativ und multisektoral betrachtet, etwa über die Entwicklung städtischer Areale, eine nachhaltige Mobilität, die Gestaltung öffentlicher Räume, die Etablierung von Stoffkreisläufen inklusive neuer Energiekonzepte, eine urbane Landwirtschaft, die Nachverdichtung des Gewerbes und ein partizipatives Planungsverfahren. In Fellbach geht es also um die landwirtschaftliche Kultivierung eines bestehenden produktiven Raums bzw. um die Integration extensiver Agrikultur im urbanen Raum, aber auch um das Schaffen von Frei- und Erholungsräume für die Bewohner:innen. Eine zentrale Rolle spielt hier der Boden, der nicht versiegelt und nicht bebaut wird. Die Leistungsfähigkeit der verschiedenen Anbauarten kann mit Einsatz von Produktionstechnik weiter gesteigert werden. Dabei bestehen in der bodengebundenen Produktion Optimierungspotentiale durch Sensorik, mobile Robotik und Vernetzung von Komponenten, während in der bodenungebundenen Produktion (Vertical Farming) durch Produktionsmanagement und Prozessautomatisierung die industrielle Herstellung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen optimiert werden kann.

Modelle für eine zukünftige Verbindung von Landwirtschaft und Produktion entstehen derzeit auch am Center Smart Industrial Agriculture der RWTH Aachen. Hier soll die in der industriellen Landwirtschaft vorherrschende, wenig ressourcenschonende Bewirtschaftung nachhaltig mit industriell etablierten Prozessen, Methoden und Tools im Sinne der Kreislaufwirtschaft unterstützt werden.[3] Unternehmen können sich unabhängig von ihrer Branche als Mitglied im Center Smart Industrial Agriculture immatrikulieren. Sie erhalten dadurch Zugriff auf die wissenschaftliche Expertise der beteiligten Forschungsinstitute der RWTH Aachen, auf Best-Practice-Lösungen innerhalb der Community und arbeiten in konsortialen und bilateralen Projekten zusammen. Eine Vernetzung von Projekten wie in Fellbach mit solchen Think Tanks hätte den Charakter eines Pilotprojekts, auch im europäischen Rahmen. Das Fellbacher Projekt nimmt Vorgaben des Green Deals der Europäischen Union auf und ermöglicht Landwirtschaft und Gewerbe, sich auf Augenhöhe zu treffen. So scheint die Umwandlung einer sozialen Marktwirtschaft in eine sozial-ökologische Marktwirtschaft, wie sie das deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzministerium fordert[4], näherzurücken. Als ein wegweisendes Pilotprojekt der IBA’27 ist »AGRICULTURE meets MANUFACTURING« Teil eines planerischen Umdenkens, in der urbane Landschaften von der Natur aus gedacht werden.

Die Gewächshausüberbauung Agrotopia in der belgischen Stadt Roeselare wurde von META architectuurbureau in Kooperation mit Van Bergen Kolpa Architecten 2015-2021 realisiert und beweist, wie eine etwa 9.500 Quadratmeter große Logistikhalle mit hohem architektonischen Anspruch aufgestockt werden kann. Der öffentlich zugängliche Bau ist im Inneren in vier Klimazonen unterteilt, in denen verschiedene Obst- und Gemüsesorten angebaut werden. Außerdem sind dem Projekt Forschungseinrichtungen angegliedert. Es entsteht als Auftragsarbeit des flämischen Forschungsinstituts für Landwirtschaft und Gartenbau Inagro und REO Veiling.

Ort: Oostnieuwerksesteenweg, Roselare, Beglien
Auftraggeber: Inagro, REO Veiling
Größe: 9.500 Quadratmeter
Architektur: META architectuurbureau – van Bergen Kolpa Arcchitecten
Team (META): Niklaas Deboutte, Eric Soors, Axel Cayman, Frederik Bogaerts
Team (van Bergen Kolpa Architecten): Jago van Bergen, Evert Kolpa, Rutger Aaftink, Joao Guilherme, Minyoung Kwon


[1] European Environment Agency: Climate change adaptation in the agriculture sector in Europe, EEA Report 04/2019, Luxemburg 2019, S. 6

[2] Europäische Kommission: »Gemeinsame Agrarpolitik«, ec.europa.eu/info/food-farming-fisheries/key-policies/common-agricultural-policy_de (Stand: 11.2.2022)

[3] Siehe Center Smart Industrial Agriculture: »Grow More with Less«, www.rwth-campus.com/csia (Stand: 14.2.2022)

[4] Siehe Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK): »Für eine Sozial-ökologische Marktwirtschaft Transformation innovativ gestalten«, in: Jahreswirtschaftsbericht 2022, Berlin 2022


Über den Autor

Andreas Kipar (Bild: Franziska Kraufmann)
Bild: Franziska Kraufmann

Der Landschaftsarchitekt BDLA und Städtebauer Andreas Kipar ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter des internationalen Landschaftsarchitekturbüros LAND mit Sitz in Deutschland, Italien und der Schweiz. Er studierte Landschaftsarchitektur an der Universität GHS Essen sowie Architektur und Städtebau am Polytechnikum Mailand, wo er seit 2009 Öffentliche Raumgestaltung unterrichtet.

Er ist ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau- und Landesplanung (DASL), des Bundes Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA), des Italienischen Verbandes der Landschaftsarchitekten (AIAPP) und des Italienischen Instituts für Stadtplanung (INU). Er ist außerdem Urheber des Mailänder Modells »Raggi Verdi« (grüne Strahlen), das auch in Essen bei der grünen Hauptstadt Europas 2017 Anwendung findet.

Andreas Kipar ist Mitglied im Kuratorium der IBA’27.

Logo IBA27