Rückblick
Wie wird aus der Region Stuttgart eine Flussregion?
Fachtagung Adressen am Fluss, 20. + 21.07.22 in Remseck am Neckar
Die Fließgewässer der Region Stuttgart sind ein Schlüssel für das stadtregionale Selbstverständnis. Denn Wasser verbindet, emotional und auch ganz praktisch. Flüsse durch Verwaltungsakte in Funktionen und Zuständigkeitsbereiche zu zerteilen ist angesichts der Klimakrise und von Extremwetterereignissen ein sich rächender Anachronismus. Eine ganzheitliche Sicht tut Not. Zusammenarbeit tut Not. Wie aber überwindet man das Kirchturmdenken und wie geht’s gemeinsam voran? Wie wird aus der Region Stuttgart eine Flussregion? Die vom Verband Region Stuttgart gemeinsam mit der IBA’27 veranstaltete Fachtagung suchte nach Ansätzen für den kooperativen Aufbruch.
Adressen am Fluss: Ideen für den Neckar
Schon im Sommer 2021 hatte mit der »Frittenbude« ein Beteiligungsangebot am Neckarufer in Besigheim, Mundelsheim und Remseck am Neckar den Auftakt zum Projekt »Adressen am Fluss« gemacht. Bei Pommes und Gesprächen erfuhren Verband Region Stuttgart und IBA’27, was sich die Bürgerinnen und Bürger von ihrem Neckar wünschen. Die ausgewerteten Ergebnisse flossen in die Ausschreibung zu einem studentischen Entwurfsprojekt ein. Über ein Semester hinweg arbeiteten Studierende der HFT Stuttgart und der HfWU Nürtingen an der Frage, wie der Zugang zum Fluss verbessert und der Erholungsraum am Wasser aufgewertet werden könnte. Anfang Juli wurden die Entwürfe von einer Fachjury diskutiert und prämiert.
Die jeweils drei ausgezeichneten Entwürfe der angehenden Stadtplanerinnen, Landschaftplaner und Innenarchitektinnen wurden am ersten Veranstaltungstag in der Remsecker Stadthalle von Baubürgermeisterin Birgit Priebe vorgestellt. Die Projekte der Studierenden reichen von spielerischen, interaktiven Ansätzen, die den Fluss als Ganzes ins Auge fassen und per App »kapern«, über als Kette entlang des Ufers aufgereihte, die betonierte Fahrrinne aufsprengende Gärten, bis hin zur attraktiv gestalteten Grillhütte, die an markanter, bislang brach liegender Stelle zum Aufenthalt einlädt. Die Resonanz der anwesenden Bürgermeister, des Gastgebers Oberbürgermeister Dirk Schönberger sowie von Thomas S. Bopp, dem Vorsitzenden des Verbands Region Stuttgart, war positiv. So wandert die Ausstellung der prämierten Arbeiten nun in die Kommunen, um hier von Bürger:innen und Verwaltung diskutiert, weiterverfolgt und bestenfalls realisiert zu werden.
Landschaft als Standortfaktor
Noch vor der Prämierung der studentischen Arbeiten hatte Landschaftsplaner und IBA’27 Kuratoriumsmitglied Andreas Kipar in seiner fulminanten Keynote auf den Paradigmenwechsel eingestimmt, der im zeitgenössischen Planen stattfinde: Nicht mehr der gebaute Raum sei in einer Zeit der Dürren, Extremregenereignisse, Hitzekrisen der gedankliche Ausgangspunkt beim Planen und Bauen, sondern die Landschaft. Sie sei es, von der aus der Lebensraum von Mensch und Natur zu denken sei, sie gelte es zu kultivieren, zu schützen und als wesentlichen Standortfaktor zu begreifen.
Netzwerken für die regionale Flusslandschaft: Impulse aus dem Ruhrgebiet und Zürich
Der zweite Veranstaltungstag stand denn auch im Zeichen der Kooperation, der Gespräche und des Netzwerkens für die regionale Flusslandschaft. Eröffnet wurde er von Regionaldirektor Dr. Alexander Lahl und Wolfgang Riehle, Vorsitzender der IBA’27 Friends. Erste wichtige Impulse für die inhaltliche Arbeit setzte Dr. Martina Oldengott von der IGA Metropole Ruhr 2027 mit ihrem Impulsreferat. Sie zeigte auf, wie lang der zurück gelegte Weg der erfolgreichen Transformation von Flussräumen im Ruhrgebiet – zurückreichend bis zur IBA Emscher Park von 1989 – ist und welche enorm wichtige Rolle regionale Kooperationsformate dabei spielen. Aber auch, welcher Gewinn an Lebensqualität für Menschen und Natur damit verbunden ist und mit wie viel Euphorie einzelne Meilensteine, wie die abwasserfreie Emscher, gefeiert werden konnten.
Weitere wichtige Impulse kamen von Prof. Ladina Koeppel von der Ostschweizer Hochschule, die über das Transformationsprojekt »Fil Bleu« im Glatttal bei Zürich berichtete, von Oliver Toellner, der die erfolgreiche BUGA Heilbronn mit den Schlagworten »Aufstehen«, »Abreißen«, »Anfeiern« charakterisierte und damit das Augenmerk auf die Begeisterung der Menschen für die Rückgewinnung ihrer Flüsse lenkte. Prof. Antje Stokman von der HCU Hamburg machte auf das eben erst geänderte Bundeswasserstraßengesetz und das Programm »Blaues Band Deutschland« aufmerksam, dessen Ziel ist, die Wasserstraßen naturnäher zu gestalten und sie in attraktive Erholungsflächen für die Menschen zu verwandeln. Genau wie Wulf Kramer vom Mannheimer Büro »Yalla Yalla«, plädierte auch Antje Stokman für neue Kooperationsformen zwischen Bund, Kommunen und zivilgesellschaftlichen Akteuren.
Diese Vereine, Ideen, Interessen- und Arbeitsgemeinschaften stellten sich beim Markt der Möglichkeiten vor. Um die neu gewonnenen Beziehungen produktiv zu machen, folgten als Höhepunkt des Tages fünf Workshops zu den Themen »Koproduktion«, »Instrumente und Finanzierung«, »Produktive Stadt am Fluss«, »Multifunktionalität« sowie »Querverbindungen«. Die Ergebnisse der 90-minütigen Diskussionen wurden im Anschluss dem Plenum vorgestellt und werden nach der Aufbereitung als Dokumentation veröffentlicht.
»Wir müssen jetzt die Kommunen ins Boot holen«
Dr. Christine Baumgärtner, Referentin für Landschaftsentwicklung, und Thomas Kiwitt, Planungsdirektor beim Verband Region Stuttgart gehörte das Schlusswort. Ihre Begeisterung über die in der Halle spürbare Aufbruchstimmung und die zahlreichen guten Ideen und inspirierenden Beispiele verbanden sie mit der Selbstverpflichtung, den Weg zu einer lebenswerten, grün-blauen Flussregion Stuttgart gemeinsam zu gehen. »Wir müssen jetzt die Kommunen ins Boot holen«, schloss Christine Baumgärtner. Wohl wissend, dass sie alle dort unausweichlich schon sind.