12.02.24
Stimmen zur IBA’27

Können Wale schwimmen?

Bauliche Großstrukturen sind nicht nur eine Hypothek, sondern haben auch Potenzial – Zwei IBA-Projekte in Sindelfingen und Stuttgart

von Frauke Burgdorff

Bei einem aufmerksamen Blick auf die Luftbilder und Schwarzpläne (west)deutscher Städte und Innenstädte wird eine Kontinuität sichtbar, die von den 1960er- bis in die 2000er-Jahre das Denken und Handeln der Stadtplanung und Stadtentwicklung geleitet hat: Große Fragen brauchen große Antworten – und große bauliche Strukturen!

Die neuen Hochschulcampusse der 1960er-Jahre schufen ein Fundament für die moderne Wissensgesellschaft. Die Klinik- und Krankenhauskomplexe der 1970er- und 1980er-Jahre versprachen hochspezialisierte medizinische Antworten auf die alten und neuen Krankheiten der Zeit. Die großen Wohnsiedlungen und Wohnhochhäuser der 1970er- und 80er-Jahre gaben in Ost und West Antworten auf die Wohnungsnot und auf die schlechten Standards in den Altstädten. Die Warenhäuser, die Shopping-Center auf der grünen Wiese, später die Shopping-Center in der Stadt und heute die Logistikcenter vor der Stadt gehören zu dieser Serie. Und auch nicht. Denn sie haben kein Problem gelöst, vielmehr ein Versprechen formuliert. Sie waren und sind die konsumtive Flanke des wachsenden Wohlstands.

»Die IBA’27 hat sich vorgenommen, dem verständlichen Entsorgungs- bzw. Abriss-Reflex zu widerstehen.«
Frauke Burgdorff

Wenn auch die Entstehungsursachen dieser Großstrukturen, die wie Wale in dem System unserer Städte liegen, unterschiedlich waren, waren sie alle miteinander Magneten für (Auto)Mobilität – inklusive der für den motorisierten Individualverkehr notwendigen Straßen und Parkhäuser. Mit dem Rückzug der Funktionen, die diese Wale ernährten, liegt die These nahe, dass hier ein Artensterben eingeläutet wurde. Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Wale haben noch Funktionen (z.B. Shopping-Center als informelle Jugendzentren), in ihnen ist jede Menge graue Energie gebunden, sie sind an eine zumeist funktionierende Infrastruktur angeschlossen.

Auch die IBA’27 hat sich vorgenommen, dem verständlichen Entsorgungs- bzw. Abriss-Reflex zu widerstehen. Anhand zweier sehr unterschiedlicher Projekte erarbeitet sie Strategien und Lernfelder für uns alle, wie die verendenden Wale belebt werden könnten, wie das Skelett dieser Großsäuger durch die Implementation eines neuen programmatischen, gestalterischen und technischen Gewebes das Gerüst künftiger Entwicklung sein könnte.

Bauliche Großstruktur Sindelfinger Krankenhausareal

Zunächst das Klinikareal in Sindelfingen. Eine Campus-Struktur am Rande der Stadt, umgeben von einem schönen Wald – gut geeignete Lage für die ruhige Genesung der Patienten. Eignet sich dieser Standort für ein neues Quartier, gar eine kleine Stadt? Die Machbarkeitsuntersuchung von Steidle Architekten sagt: ja. Sie untersucht die möglichen Dichten dieses künftigen Standorts, testet aus, welche Mischung sinnvoll sein könnte. Diese gründliche und ergebnisoffene Phase null ist essenziell, um überhaupt sinnvolle Antworten zu finden. Und es werden auch nachdenkliche Hinweise gegeben: Ist die Aktivierung des Standorts als gemischtes Quartier vielleicht eine Zementierung der fragmentierten Stadtlandschaft, die wiederum Mobilität im Verhältnis zum Zentrum erzeugt, die nicht gewünscht ist? Ja, sicher steht das zu vermuten und auch zu befürchten, wenn die Standortentwicklung nicht in das Gesamtsystem Stadt integriert wird.

Vor der Neubesiedlung des Standortes muss dringend eine hervorragende Erschließung durch den ÖPNV gewährleistet sein. Und es wäre natürlich wünschenswert – wenn auch nicht steuerbar –, dass die Beziehungen der künftigen Bewohner:innen zu den dort sich ebenfalls ansiedelnden Arbeitgeber:innen räumlich eng sind. Was sehr wohl steuerbar ist, ist dass die neuen Bewohner:innen ausreichend mit den sozialen und kulturellen Angeboten des Alltags versorgt werden – Dritte Orte und Bibliotheken, Angebote für Kinder, Jugendliche, Sport. Ob dafür 3.000 Einwohner:innen wirklich ausreichen? Wünschenswert wäre, dass der neue Stadtteil so viele neue Bewohner:innen willkommen heißen könnte, dass der Alltag vor Ort mit möglichst kurzen Wegen gelebt werden könnte.

Sollte es dafür notwendig sein, den Freiraum zu reduzieren, wäre dies in Abwägung mit den positiven Effekten zu bringen, die eine gute Dichte am Standort hat – auch aus ökologischer Perspektive. Denn nur mit ausreichend Dichte lohnt sich eine hervorragende Erschließung und entfaltet der Nutzen, der aus dem Erhalt großer Teile der Gebäude und der Infrastruktur entsteht, seine größte Wirkung.

»Nur mit ausreichend Dichte lohnt sich eine hervorragende Erschließung.«
Frauke Burgdorff

Bauliche Großstruktur Neue Mitte Leonhardsvorstadt

Ganz anders gelagert ist die Debatte um die künftige Entwicklung der Leonhardsvorstadt. Das politische Ziel – Bohnenviertel und Leonhardsviertel sollen wieder als Einheit gelebt werden – und der Wille der IBA Protagonist:innen, das Parkhaus zu erhalten, scheint noch nicht ganz im Einklang zu sein. Kann die Umnutzung des Züblin-Parkhauses den entscheidenden Impuls liefern, ein gemischtes Programm anbieten, das das Herz der Leonhardsvorstadt wird? Wenn das gelingen könnte, gäbe es meines Erachtens keinen guten Grund, an dieser Stelle unbotmäßig viel gebundenes CO2 zu vernichten. Es wäre fatal, wenn hier die Entscheidungen zu kategorisch oder gar ideologisch gefällt werden würden.

Gute Zukunftsperspektiven in beiden Varianten sollten erarbeitet und fair zueinander bewertet werden, damit auf der Basis beherzt entschieden werden kann. Wichtig ist hier – so meine ganz konkrete Erfahrung aus Aachen – dass alle Entscheider:innen die Chancen und auch die Grenzen einer Phase null und die Grenzen von Machbarkeitsuntersuchungen akzeptieren. Eine letztendliche Gewissheit, welcher Weg der richtige gewesen ist, gibt es nicht und wird es, auch nachdem das Vorhaben abgeschlossen ist, nicht geben.

Auch die Stadt Aachen – in der ich einen Teil der Verantwortung für die Transformation der Wale trage – stellt sich den von der IBA’27 aufgerufenen Debatten. Ein Parkhaus wird zur Wiese, ein Kaufhaus zu einem Dritten Ort. Ob andere Großstrukturen in Zukunft Studierende behausen, Orte des Sports oder auch der Wissenschaft werden, wird sich zeigen. Klar ist, dass wir alle die Wale alsbald wieder zum Schwimmen bringen wollen – denn es sind ja auch schöne Tiere!

Über die Autorin

Bild: Andreas Steindl

Frauke Burgdorff ist Diplom-Ingenieurin der Raumplanung. Nach ihrem Studium in Kaiserslautern und Dortmund hat sie unter anderem als Stadtplanerin in Antwerpen, als Zukunftsforscherin in Gelsenkirchen und für die Konzeptentwicklung der Euregionale in Aachen gearbeitet. Im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen hat sie die Initiative Stadtbaukultur NRW aufgebaut und das Europäische Haus der Stadtkultur geleitet. Ab 2006 hat sie als Vorständin die Montag Stiftung Urbane Räume gAG in Bonn aufgebaut und geführt. In dieser Zeit wirkte sie auch als Geschäftsführerin der Urbane Nachbarschaft Samtweberei gGmbH. 2016 hat sie Burgdorff Stadt – Agentur für Kooperative Stadtentwicklung aufgebaut. Sie war mit ihrem Team in der ganzen Republik für Kommunen und Wohnungsunternehmen tätig. 2019 ist sie vom Rat der Stadt Aachen zur neuen Beigeordneten für Planung, Bau und Mobilität gewählt worden.

Dieser Beitrag ist erschienen in unserem Reader »Stimmen zur Internationalen Bauausstellung StadtRegion Stuttgart«.

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