Wem gehört die Straße?
»Wem gehört die Straße?« Um diese dornige Frage drehte sich eine Diskussion am Nürtinger Busbahnhof, Teil des IBA’27-Projekts Bahnstadt Nürtingen – und im Sommer das »Wohnzimmer des Jugendhauses«, so eine Jugendliche im Publikum. Auf dem Podium: Fachleute, lokale Straßennutzer:innen, Vertreter der Stadt. Moderiert war die Runde von Tina Muhr aus dem IBA’27-Team.
Einig waren sich alle: Es muss sich schnell etwas ändern. Über das Wie schieden sich die Geister, wenngleich auch nur in Nuancen.
Tilman Latz von der Hochschule Weihenstephan/Triesdorf: »Straßen sind zu reinen Verbindungsräumen geworden; früher waren es Orte, auf denen zum Beispiel auch gearbeitet wurde. Straßen müssen wieder solche Orte des Austauschs und der Begegnung werden.« Dieser Umbau brauche nicht nur Mut, sondern auch Geld — so, wie in den 1960er-Jahren, als die Straßen für den Autoverkehr radikal umgekrempelt wurden. »In Deutschland sind wir viel zu langsam — andere Länder probieren viel mehr aus, andere Städte treffen viel radikalere Entscheidungen. Den Mut haben wir hier offensichtlich nicht. Wenn wir aber so weitermachen, brauchen wir hundert Jahre für den Umbau.«
Clara Schweizer, Studentin und Gründerin der Klima Taskforce Nürtingen: »Es gibt gerade keine Gleichberechtigung der Verkehrsteilnehmenden auf den heutigen Straßen.« Ihre Vision für Nürtingen: »grüne Nachbarschaften, in denen die Straße den Bürgerinnen gehört und nicht den Autos. Tübingen zum Beispiel beweist, dass ein mutiger Umbau mit einer guten Fahrradinfrastruktur zu einem sichereren Radverkehr führt.«
Michael Jäger, »leidenschaftlicher Radfahrer« aus Nürtingen: »Der klimafreundlichen Fortbewegung muss mehr Raum eingeräumt werden, egal ob ÖPNV, Elektromobilität, Fahrrädern oder Fußgängern.«
Johannes Martin von der Stadt Nürtingen: »Die Straße gehört nicht einem Teilnehmer allein. Eine mögliche Bevorzugung bestimmter Verkehrsträger müssen wir nach Art und Möglichkeiten der jeweiligen Straße organisieren. Wir brauchen keine Verbote oder Benachteiligungen, sondern müssen vor allem die Attraktivität klimafreundlicher Mobilitätsformen steigern.«
Henning Krug von der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen: »Wenn wir heute den Straßenraum planen, planen wir ihn für die Nutzungsansprüche von übermorgen.« In den letzten 70 Jahre habe man gelernt, dass mit mehr Straßen auch der Stau mehr werde. Zudem plädierte er für mehr Nutzungsmischung im Straßenraum: »Nur auf einen Verkehrsträger zu schauen, hilft auch nicht unbedingt. Kopenhagen zum Beispiel hat vor allem aufs Rad gesetzt; Radfahren dort ist toll – als Fußgänger ist es dort aber manchmal nicht schön.«
Aus dem Publikum wurde unter anderem die Position der Berufspendler laut, »die nicht im Auto sitzen, weil sie Lust drauf haben«. Äußerungen zum »radikalen Umbau der Straße, bei dem die Autofahrer dann halt warten müssen« klängen da teilweise auch etwas zynisch. Für eine Änderung im Verkehrssystem bräuchte es vor allem eine bessere Verknüpfung der Verkehrsträger. Tilmann Latz gab dem Einwurf recht: »Der ÖPNV ist nicht ansatzweise so gut, dass er diesen Bedürfnissen gerecht wird. Das liegt daran, dass der ÖPNV jahrzehntelang vernachlässigt wurde. Das muss sich ändern, sonst gelingt der Umbau nicht.« Henning Krug ergänzte: »Wenn wir mehr Autoverkehr auf andere Verkehrsträger verlagern – ihn attraktiver machen –, dann machen wir auch den dann noch notwendigen Autoverkehr viel flüssiger.«
Tobias Schiller / IBA’27-Team