16.09.24

Eine Art IBA’27-Trendsetter: das Zürcher Hunziker-Quartier. Ist es überzeugend älter geworden?

Eine neue Studie wollte genau das von mehreren Projekten wissen – auch von jenem, das Andreas Hofer in seinem Vor-IBA’27-Leben so maßgeblich mitentwickelt hat: Jenem 1.250-Menschen Quartier, in das vor knapp zehn Jahren die ersten Menschen eingezogen sind.

Aus einer Industriebrache an einem vormals ziemlich unwirtlichen Ort eine dichte urbane Oase für ganz viele ganz diverse ganz normale Menschen machen. Dabei auf so vielen Ebenen gleichzeitig Neuland betreten, wie in anderen Projekten eher selten – kann das gelingen? Im Hunziker Areal wurde es versucht. Auch deshalb wird das Projekt von vielen als ziemlich einzigartiges Konzept gesehen.

Neue Studie fragt mit Längsschnitt-Perspektive:

Was ist von den Intentionen und Visionen real geblieben, was von den Befürchtungen? Wie haben sich Akteurs-Konstellationen und Partizipationsformen entwickelt? Wie geht das auf Dauer – so dicht, so kompakt, mit so wenig Wohnfläche in großer Diversität zusammenzuleben? Wie hat sich die Bewohnenden-Mischung entwickelt? Wie haben die Innovationen sich bewährt, welche Wirkungen sind tatsächlich eingetreten, nicht nur auf dem Papier?

Neues Normal in genossenschaftlichem Realexperiment im Quartiersmaßstab

Die Studienergebnisse sind ungeheuer lehrreich, lohnend gerade auch aus Perspektive der IBA’27-Ziele.

Hier nur ausgewählte Andeutungen zu den Befunden:

  • Die schiere Größe des Projekts macht die Diversität einfacher, ebenso wie die Anpassung an individuelle und haushaltliche Entwicklungen im Lebenslauf oder sich wandelnde Prioritäten im Zeitablauf. Und obwohl auf jede erwachsene Person letztlich weniger als ein Quadratmeter Gemeinschaftsfläche kommt, ist das Angebot gemeinschaftlicher und Sharing-Nutzungen äußerst differenziert – aber zugleich ebenso wirtschaftlich wie flächensparsam.
  • Das Potenzial der Nahraumumzüge ist beträchtlich, könnte aber durch deutlichere Moderation noch einiges stärker werden.
  • Gemeinschaftlichkeit und Generationenwohnen ist zugleich viel unauffälliger und undogmatischer unterwegs – nicht zuletzt durch die gestufte Vielzahl von Bezügen auf den miteinander verschränkten Maßstabsebenen: von der kleineren Einheit des Groshaushalts über die Einzelhaus-Belegschaften bis hin zu quartierlichen Nachbarschaften. Das macht das Gesamtprojekt resilienter gegenüber je einzelnen Beziehungsproblemen.
  • Faszinierend: erfolgreiches Mehr-als-wohnen (so heißt die tragende Genossenschaft zugleich) hängt dort keineswegs davon ab, dass der Löwenanteil der Bewohnenden die Ursprungsideen bei Einzug und im weiteren Verlauf aktiv verinnerlicht. Oder schon langjährig am Entstehungsprozess beteiligt war.
  • Es ist ein zugleich quietschlebendiges, hunz-normales und bestens alternstaugliches Quartier. Mit robustem Wohnen für alle, mit vielfältigsten Übergängen zwischen verschiedenen Wohnungen und Wohnformen im Lebenslauf, mit strukturell starken Potenzialen für Caring Communities. Jede Menge Humus für das Entstehen von »Wahlverwandtschaften« und »Bastelnachbarschaften« – weniger statisch und homogen, mehr selbst konfiguriert und potenziell vielfältiger.

Mit dem Hunziker Areal ist ein Quartier entstanden, in dem die Menschen in hohem Maße zufrieden sind, wie sie Vielfalt leben können. Ohne einengend erlebte Erwartungen mit Bezug auf Lebensstile, Sich-Einbringen usw. Die mehrdimensionale Normalisierungsstrategie ist weitgehend aufgegangen: eine ganze Bevölkerung in ihrer Heterogenität und Diversität abzubilden. Und eben keine einseitige Auswahl.

Viele weitere spannende Erkenntnisse…

beziehen sich auf die Themen

  • suffizient bauen, leben und wohnen – nicht zuletzt auf die überzeugende Wohnflächensparsamkeit,
  • auf die Frage, wie die extrem hohe Dichte mit ihren massigen tiefen Kubaturen der großen Häuser gestaltet wurde und ganz real im Alltagsleben und -erleben erlebt und bespielt wird,
  • wie Sharing und Gemeinschaftsflächen organisiert werden und welchen wichtigen Einfluss die “Allmendkommission” sowie die Quartiergruppen spielen – in einem ganz spezifischen Motivations- und Partizipationsmodus,
  • wie sich die besonders hohe Vielfalt an Wohntypologien – und hier insbesondere die eigenwilligen Clusterwohnungen mit ihren mittlerweile zusammengenommen vielen Dutzend Jahren gelebten Lebens – bewähren und von den Menschen gesehen werden,
  • wie rückblickend das ungeheuer hohe Maß an Innovationsvielfalt und -dichte reflektiert wird, und was heutige Akteure daraus lernen könnten. Und wie das alles sich zum real entscheidenden Verhalten und Wohnhandeln – in der Aneignung durch die Bewohnenden – verhält. Reale Wirkung eben statt Konzeption – egal, ob bei Lüftungsverhalten, Mobilitätsmustern, Mitmachmustern usw.

Studien-Autor Ulrich Otto (Tübingen | Zürich) überlässt in der Studie Andreas Hofer den Schlussgedanken:

»Die BG mehr als wohnen ist ein unerwartetes Inklusionsprojekt. Sie bringt junge und traditionelle gemeinnützige Bauträger zusammen und hat ihre Wohnungen an Menschen vermietet, die mehrheitlich keinen Hintergrund in alternativen Wohnprojekten haben. Damit stellt sie sich einer völlig neuen Situation. Ohne Opposition oder Gegenwelt zu sein, bietet sie genossenschaftliche Prinzipien der Aneignung für die Gestaltung individueller Lebenswelten an. Wenn die Bewohner:innen diese entdecken und annehmen, haben neue Wohnmodelle bewiesen, dass sie nicht Inseln der Überzeugten, sondern Zukunftsräume sein können.«

Zum Forschungsprojekt

Die 90-seitige Studie gibt es hier zum download

Sie ist Teil eines großen Forschungsprojekts zum Thema »Generationenwohnen in langfristiger Perspektive – von der Intention zur gelebten Umsetzung«. Das Projekt entstand in Zusammenarbeit und Pool-Förderung der Age-Stiftung, der Beisheim Stiftung, des Bundesamtes für Wohnungswesen (BWO), des Max Pfister Baubüros und der Walder Stiftung. Der Fallstudienband enthält weitere fünf intensive Fallstudien sehr unterschiedlicher Projekte – die Längsschnittperspektive aber ist überall gleich – hier ein Überblick über die sechs Fallstudienorte:

Die Forschung wurde vom ETH Wohnforum – ETH CASE (Zürich) in Kooperation mit Prof. Dr. Heidi Kaspar (Berner Fachhochschule BFH) und Prof. Dr. Ulrich Otto (Tübingen | Zürich) durchgeführt.

Bilder: Ulrich Otto

Ulrich Otto / Wohn- & Alternsforscher. Wohnaktivist. Vorstand nestbau AG TÜ

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