Beitrag aus dem IBA’27-Kuratorium
Zukunft der Vergangenheit – die Produktive Stadt
von Hans Drexler
Eine Internationale Bauausstellung (IBA) verhandelt die Zukunft des Bauens, der Stadt und in Konsequenz auch des Lebens der Menschen in der Stadt. Gleichzeitig legt dieses Nachdenken über die Zukunft auch Strukturen und Prozesse offen, die den Status Quo bestimmen und beschäftigt sich damit genauso mit der Gegenwart und der Vergangenheit. Die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27), die zum einhundertjährigen Jubiläum der Weissenhofsiedlung ihr Präsentationsjahr haben wird, hat sich den Umgang mit der Moderne zu einem der fünf Kernthemen und Handlungsfelder gemacht. Neben dem Städtebau der Nachkriegsmoderne bleibt vor allem die Trennung der Funktionen von Städten und Gebäuden als das wirksamste Erbe der Moderne. Sie bildet bis heute die Grundlage von Planungsinstrumenten, Gesetzen, Verordnungen, Bebauungsplänen, Finanzierungsmodellen und Eigentumsverhältnissen.
In der modernen Stadt wurden die globalen Megatrends der Zeit festgeschrieben und befördert: Urbanisierung[i], Industrialisierung, Globalisierung und Standardisierung. Gerade die Weissenhofsiedlung, die mit Hilfe einer Feldfabrik in nur vier Monaten errichtet wurde, zeigt die Planungs- und Produktionsmethoden und die Mechanismen des modernen Wirtschaftssystems wie unter einem Brennglas. Die Moderne ist eine Übersetzung der Industrialisierung in Räume, Formen, Material, Konstruktion und Prozesse. Städte wurden wie Fabriken gedacht und auf die Verkehrsflüsse und effizienten Abläufe hin optimiert. Architektur, die wie Autos massenhaft, effizient und günstig hergestellt werden kann. Menschen, die wie Fabrikarbeiter:innen ihren optimierten Wohn- und Arbeitsmustern folgen. Dennoch ist die CIAM-Moderne[ii] nicht einseitig als Reaktion auf die globale Umstrukturierung zu verstehen. Sie war und ist genauso Treiberin der Entwicklung.
Die arbeitsteilige Gesellschaft und die Funktionstrennung, die zunächst nur innerhalb der Stadt gedacht wurden, haben im Zuge der Globalisierung (outsourcing und offshoring) zu einer Verteilung von Produktionsprozessen über die ganze Welt und dem geführt, was Steffen die »große Beschleunigung«[iii] nennt. Die materielle Produktion, eine wichtige kulturelle und intellektuelle Komponente im Gesamtgefüge von Wirtschaft und Gesellschaft[iv], wird von immer weniger Menschen als attraktives Arbeitsumfeld wahrgenommen.
Funktionstrennung fördert die Fragmentierung der Gesellschaft
Die Fragmentierung und Individualisierung der Gesellschaft wird durch das Fehlen von gemeinschaftlichen und öffentlichen Räumen befördert. Thomas Sieverts betont, dass die sozialen Realerfahrungen, jeden Tag unterschiedliche Menschen zu sehen, zu treffen und zu sprechen, die Grundvoraussetzungen für die Entwicklung eines demokratischen und solidarischen Grundverständnisses sind.[v] Die Funktionstrennung hat den öffentlichen Stadtraum überwiegend zum Verkehrsraum transformiert, in dem sich kleine Enklaven von öffentlichen Plätzen und Grünräumen finden. Langsam nur werden heutzutage einzelne Straßen und Orte für Menschen und öffentliche Nutzungen zurückerobert. Die Innenstadtbereiche sind vielfach zu Einkaufszentren umfunktioniert worden, die außer Konsum wenig zulassen. Den monofunktionalen Wohnquartieren fehlt das vielfältige städtische Leben. Aus starren Vorstellungen von Lebensmodellen und Nachfragetrends entstehen Raumprogramme, die meist eine geringere Gültigkeit haben, als die Lebensdauer der Gebäude selbst.
Es muss ein neues Verständnis und eine neue Planungspraxis für das Verständnis von Arbeiten und Wohnen entwickelt werden, die der Lebenswirklichkeit der Menschen im 21. Jahrhundert entsprechen und der sozialen Erosion entgegenwirken. Im Planungsrecht wurde im Jahr 2017 das »urbane Gebiet«[vi] ergänzt, in dem neben Wohnen auch Gewerbe, Handel, Verwaltungen und soziale Nutzungen zulässig sind. Damit kehrt das Planungsrecht zurück zu einem traditionelleren Verständnis, in dem Städte immer ein Nebeneinander, Übereinander und Miteinander von Wohnen, Produktion, Dienstleistung, Handel und Kultur waren. Die produktive Stadt[vii] des 21. Jahrhunderts ist eine Chance für eine Rückbesinnung auf dieses konstruktive, lebendige Neben- und Miteinander und für einen Neuanfang.
Die produktive Stadt stärkt Identifikation und Innovation
Im Idealfall ist die produktive Stadt eine dichtere Stadt der kurzen Wege und damit auch ökologischer als dezentrale Stadtstrukturen. Mit steigender Dichte sinkt der Landverbrauch pro Kopf, nicht nur für die Gebäude, sondern auch für Straßen und Infrastruktur. Die Auslastung von sozialer Infrastruktur und Kultureinrichtungen nimmt zu und ermöglicht bessere Angebote. Wenn Waren und Lebensmittel lokal produziert und gehandelt werden, wird die Stadt wieder zu einem engmaschigen Netzwerk von Wohnen, Arbeiten, sozialem und kulturellem Leben.
In den letzten Jahren ist bei den Verbraucher:innen ein größeres Interesse an lokalen, ökologischen und nachhaltigen Produkten entstanden, das auch mit der Bereitschaft verbunden ist, höhere Preise zu akzeptieren. Dieser Trend entsteht aus einer Identifikation mit den lokalen Produkten und den kleinen Industrien. Regionale Produkte sind ein wichtiger Träger der kulturellen Identität der Städte. Damit nehmen die Städte wieder ihre ursprüngliche Rolle als Treiberinnen von gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und ökonomischen Innovationen sowie als Plattformen des Austauschs und der Wertschöpfung ein.[viii]
Die Rückkehr der Produktion in die Stadt
Für eine produktive Stadt suchen wir Konzepte, die auch das produzierende Gewerbe und die Landwirtschaft wieder in die Stadt integrieren. Die meisten Produktionen sind nicht mehr störend oder gefährlich für ein Wohnumfeld, so dass eine Trennung von Wohnen und Arbeiten nicht mehr in diesem Maße erforderlich ist. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten für das Arbeiten in räumlichen und zeitlichen Mischungen von Arbeiten und Wohnen.
Ansatzpunkt für die produktive Stadt sind auch die neuen Möglichkeiten einer »Industrie 4.0«. Die Merkmale einer solchen Industrieproduktion ist die digitale Vernetzung der Maschinen und Geräte, die hohe Flexibilität der Produktionsanlagen und die damit geringeren Grenzkosten.[ix] Die sogenannten »Fab-Labs«, die Abkürzung für »fabrication labs«, geben einen Hinweis darauf, wie eine dezentrale und hochgradig digital gesteuerte Industrie-Produktion der Zukunft aussehen könnte: Offene Werkstätten oder Labore bieten eine Infrastruktur, die sich zur Produktion in kleinen Serien eignet. Der Aufbau einer solchen Industrie 4.0 ist aber nur anteilig eine planerische Aufgabe. So müssen übergreifende Konzepte der Wirtschaftsförderung, Bildungspolitik und Stadtplanung zu einem Aufbau solcher Strukturen entwickelt werden. Eine wichtige Rolle können solche Fab-Labs oder niederschwellige Werkstätten auch bei der Integration oder Wiedereingliederung von Menschen in den Arbeitsmarkt bilden.
Das Projekt dgj219 Arrival City 4.0 verfolgt einen partizipatorischen und »self-enabling«-Ansatz zur Integration. Geflüchtete können unter dem Motto »Home not Shelter« an der Errichtung ihrer Wohngebäude selbst teilnehmen. Wohnen ist nicht nur eine Frage der »Unterbringung«, sondern ein Grundrecht, das eng verknüpft ist mit der Frage der sozialen Teilhabe an der Gesellschaft. Ziel von Arrival City 4.0 ist es, geeignete Unterkünfte für die Menschen bereitzustellen, die ihnen nicht nur eine kurzfristige Unterkunft (Shelter), sondern auch eine langfristige Perspektive (Home) bieten.
In den sich entwickelnden Ländern führt die Einwanderung von Geflüchteten häufig zur Errichtung selbstorganisierter, informeller Siedlungen mit schlechter Infrastruktur und minderwertiger Bebauung, die dann über Jahrzehnte in eine Stadtstruktur verstetigt werden.
Informelle Siedlungen können kein Vorbild sein für die europäischen Städte, vor allem weil der Integrationserfolg zu gering und zu langsam ist. Für den europäischen Kontext muss die selbstorganisierte Urbanisierung von »Arrival City« in einen formalisierten Prozess der Selbstorganisation übersetzt werden, der den technischen, städtebaulichen und baukulturellen Maßstäben der europäischen Städte genügt.
Das Konzept gibt dafür einen klaren strukturellen und gestalterischen Rahmen vor. So ist es für den Integrationserfolg von entscheidender Bedeutung, dass die neuen Wohngebäude keine erkennbaren »Flüchtlingshäuser« sind, sondern als gleichwertige Bausteine der Stadt wahrgenommen werden. Über den Erwerb von Grundkenntnissen zur Errichtung von Gebäuden im »Fab Lab« kann das Projekt auch als selbstermächtigende Bildungsinitiative betrachtet werden.
Der Ausbau der Häuser, wie Innenwände und Möbel für die Wohnungen, entsteht im »Fab-Lab«, das im Gebäude untergebracht ist. Basierend auf einem von DGJ entwickelten Open-Source-System wird das Projekt Teil des »WikiHouse«-Netzwerks, das Entwurfsmuster für Gebäude und Möbel sammelt, austauscht und zur Verfügung stellt. Im Erdgeschoss ist eine einfache CNC-Fräsmaschine installiert, die auch von ungelernten Laien mit einem Minimum an Training genutzt werden kann, um Möbel, Innenwände oder andere Gebäudeteile herzustellen. Das »WikiHouse«-System bietet eine Fräs- und Bauanleitung für die Herstellung des Grundgerüst einer CNC-Fräsmaschine, sodass sich nach der Installation des ersten »Fab-Lab House« das ganze System zu sehr geringeren Kosten selbst reproduzieren kann.
»Fab-Lab Housing« ist ein ausbaufähiges, wachsendes Konzept, das auch einen niedrig-investiven Lösungsansatz für die allgemeine Wohnungsnot darstellt. Mit einer minimalen Investition können in sehr kurzer Zeit einfache Unterkünfte gebaut werden. Anders als normale Not-Unterkünfte (Zelte, Container) öffnet »Fab-Lab Housing« Chancen, zeitnah in dauerhafte Gebäude konsolidiert zu werden, die einen wertvollen Teil der Stadt darstellen.
Produktion als Chance für die Stadtzentren
Eine Chance und gleichzeitig Notwendigkeit für ein Umdenken wird sich aus dem Rückgang des stationären Einzelhandels ergeben. Durch den Online-Handel sind die Umsätze im stationären Einzelhandel zurückgegangen. In den letzten zwei Jahren wurde dieser Trend durch die Pandemie noch verstärkt. Waren zuerst nur kleinere und mittlere Städte sowie ungünstigere Lagen betroffen, so setzt sich der Rückgang des Einzelhandels nun in den B-Lagen der Großstädte fort. Es ist davon auszugehen, dass viele Geschäfte nach der Pandemie nicht zurückkehren werden. Hier liegt eine Chance für die produktive Stadt mit Gebäuden, in denen Wohnen und Arbeiten in verschiedenen Anteilen und Körnungen oder gar Nutzungszyklen gemischt werden mit individuellem und gemeinschaftlichem Wohnen. Die Nähe zur Produktion bietet auch einen neuen Ansatz für den Einzelhandel, wie schon heute viele Modegeschäfte mit angelagerter Produktion in Berlin zeigen. Solche flexiblen Mischformen sind robuster im Hinblick auf kurz- und langfristige Änderungen von Bedarf und Lebensstilen. Die flexiblen Gebäude können langfristig genutzt und umgenutzt werden, was sie sowohl ökologisch als auch ökonomisch nachhaltiger macht.
Stoffkreisläufe schließen
Ein weiteres Potenzial sind Synergien im Hinblick auf Energie- und Stoffkreisläufe. So könnten die Wohngebäude als Wärmesenken für das produzierende Gewerbe dienen. Hier ist als Beispiel an die riesigen Rechenzentren in Frankfurt am Main zu denken, die gemeinsam den größten Internetknoten der Welt DE-CIX bilden. Die Rechenzentren verbrauchten 2018 mit rund 1,3 Terawattstunden etwas 20 Prozent des gesamten Strombedarfs der Stadt.[x] Wenn die Abwärme genutzt werden würde, dann könnten ganze angrenzende Wohnquartiere mitversorgt werden. Auf der anderen Seite könnten alle Gebäude durch die Integration von Photovoltaik zu kleinen Kraftwerken einer dezentralen Energieversorgung werden. Hier sind smarte, lokale Energienetze denkbar, die die Synergien zwischen den verschiedenen Erzeuger:innen und Verbraucher:innen im Netz maximieren.
Das nächste Handlungsfeld sind lokale Stoffkreisläufe. Eine Engführung der Waren und Ressourcen eröffnet neue Möglichkeiten für die Wiederverwendung von Verpackungen (Pfandsysteme) und Wertstoffen. Auch hier könnte der Baubereich Pilotprojekte umsetzen. Der Ausbau und die Wiederverwendung von Bauteilen macht ökologisch und ökonomisch nur Sinn, wenn die Bauteile nicht zu weit transportiert und möglichst nicht lange zwischengelagert werden. Über regionale Bauteilbörsen ließe sich die gebaute Stadt als Rohstofflager für Baustoffe und Bauteile nutzbar machen, die laufend bei Abriss und Umbaumaßnahmen anfallen und derzeit nicht wiederverwendet werden.
Umbau bestehender Gewerbegebiete zur produktiven Stadt
Auch wenn dargestellt wurde, dass durch den geringeren Bedarf an Einzelhandel mittelfristig Flächenpotenziale entstehen, so sind diese Flächen nicht ausreichend, um eine Transformation im Sinne einer produktiven Stadt zu realisieren. Auch der Neubau trägt jährlich nur unter einem Prozent zur Erneuerung der Bausubstanz bei. Wenn also neue produktive Stadtquartiere entstehen sollen, so muss dies durch eine Durchmischung und auch notwendige Deregulierung von Wohnen, Gewerbe und Industrie in den bestehenden Quartieren angegangen werden. Diese neue Nachfrage könnte zu noch schneller steigenden Preisen und Verdrängung der Einkommensschwachen führen.
Sinnvoller scheint hingegen eine Nachverdichtung und ein Umbau der zentrumsnahen Gewerbegebiete: Diese weisen eine niedrige Bebauungsdichte mit meist nur ein- oder zweigeschossigen Hallen und großen Freiflächen auf, die zwar als Flächen für den ruhenden oder fließenden Verkehr oder Lager genutzt werden, aber durchaus überbaut werden können. Die Herausforderung besteht darin, die Anliegen der Industrie und der Gewerbetreibenden gleichermaßen zu schützen. Diese Notwendigkeit ergibt sich schon aus den Eigentumsverhältnissen: Die Gebiete können nur transformiert werden, wenn diese Veränderung die Interessen der jetzigen und zukünftigen Nutzung nicht in Frage stellt. Als Testfall einer solchen Transformation könnte das Gewerbegebiet in Fellbach dienen, das unter dem Titel »Agriculture meets Manufacturing« ein Projekt der IBA’27 ist. Im ersten Schritt können beispielsweise Parkplätze überbaut werden, wie dies schon bei innerstädtischen Einzelhandels-Märkten passiert.
Raumorganisation und Typologien der produktiven Stadt
Es lassen sich zwei räumliche Konzepte unterscheiden: Werden Produktionseinheiten in die Stadtstruktur eingebettet, bleiben aber in sich räumlich geschlossen, kann man von einer Enklave sprechen. Ein Beispiel hierfür ist die Fabrik der Firma Wittenstein aus dem Jahre 2011 in Fellbach, die in zentraler Lage errichtet wurde, weil sie die angrenzende Wohnnutzung praktisch nicht stört. Die Lage und Nähe zu den Wohnquartieren wurde als Standortvorteil verstanden. Aufgrund der hohen Sicherheitsanforderungen und der Produktionsabläufe ist die Produktion aber räumlich getrennt vom städtischen Gefüge.
Weiter geht die Integration, wenn Nutzungen im gleichen Gebäude oder im städtischen Raum gemischt werden. Vielversprechend ist die vertikale Schichtung von Nutzungen. So lassen sich in einem Gebäude in den Erdgeschossen oder unteren Gebäudeteilen Produktion, Handel, Gastronomie und soziale Einrichtungen anordnen, während die oberen Geschosse zum Wohnen genutzt werden. Aber auch ein Nebeneinander von unterschiedlichen Nutzungen ist denkbar.
Eine weitere Differenzierung ließe sich durch die Innen- und Außenkanten städtischer Blöcke einführen. In China ist ein gängiges Mittel der Stadtplanung der »Compound«[xi] oder geschlossener Nachbarschaftshof mit Wohnbebauung, Gärten und unterstützenden Nutzungen innen, der nach außen zum Straßenraum kommerzielle Nutzungen anbietet und nach innen Wohnnutzungen und einen geschützten und begrünten Wohnhof.[xii] Oft sitzen die Wohngebäude erhöht auf einem durchgehenden Erdgeschoss, das dann für Produktion oder Handel genutzt werden kann. So entstehen unterschiedliche städtische Räume in einem engen Verbund, der eine Differenzierung und einen Schutz von privaten und gemeinschaftlichen Räumen erlaubt.
An diesen Beispielen wird deutlich, dass die produktive Stadt nicht nur eine planerische Aufgabe ist, sondern auch stadträumliche und architektonische Konzepte entwickelt werden müssen, die das enge Nebeneinander von unterschiedlichen Nutzungen räumlich und zeitlich so organisieren, dass Konflikte minimiert und Synergien genutzt werden. Einen interessanten Ansatz dazu bietet zum Beispiel die Typologie der »Inside-Out-Blöcke« des Entwurfs von JOTT Architekten für das IBA-Projekt »Produktives Stadtquartier Winnenden«, der die lärmintensiveren Nutzungen ins Innere von vertikal gemischten Blöcken verlegt. Die Wohnnutzungen in den oberen Etagen hingegen wenden sich nach außen auf öffentliche Grünräume zwischen den Blöcken.
Wege zur Überwindung der Trennung von Nutzungen und Menschen
Wichtiges Handlungsfeld ist die (kommunale) Planungspolitik. Mit dem Begriff des »urbanen Gebiets« im Planungsrecht steht der Politik ein wirksames Instrument zur Verfügung, mit dem sich produktive Stadtquartiere umsetzen lassen, auch wenn dem Paragraphen noch deutlich der Duktus der funktionsgetrennten Stadt anhaftet. Gleichzeitig erfordert die produktive Stadt eine ebenso sorgfältige wie flexible Moderation der Prozesse sowie struktur- und wirtschaftspolitische Maßnahmen. Plumpe Deregulierung führt zu Verdrängung und zu kurzfristigen Reaktionen auf die Nachfragetrends. Wenn in der produktiven Stadt auch neue Produktionsformen und Industrien entstehen sollen, dann brauchen diese einen geschützten Raum und kontinuierliche Förderung.
Vielversprechend scheint die räumliche und institutionelle Nähe zu den Hochschulen und Universitäten als Zentren der Forschung und Entwicklung. In München ist im Umfeld der Technischen Universität (TUM) ein Gründernetzwerk »UnternehmerTUM« etabliert worden, das gezielt Neugründungen befördert. Leider nutzen noch nicht alle Hochschulen und Universitäten die Chancen solcher hochschulnaher Ausgründungen und Unternehmen. Diese Netzwerke wären auch geeignet, um die neuen Produktionsräume in den Städten zu organisieren und zu nutzen. Ein anderes Beispiel findet sich in Paris. Hier hat die Stadt eine Agentur »Semaest« gegründet, die Ladenlokale anmietet und in einem Förderprogramm lokale Unternehmer:innen zur Gründung von kleinen Geschäften und Betrieben ermutigt.[xiii]
Die Mischung von produzierendem Gewerbe, Dienstleistungen und Wohnen in der produktiven Stadt führt notwendig zu Reibung und Anpassungsprozessen. Es entstehen neue Verkehre, Emissionen (wenn auch nur im geringen Umfang), alte Nutzungen werden verdrängt und neue Nachfragen entstehen. Vor allem begegnen sich in der Stadt und in den öffentlichen Räumen Menschen mit unterschiedlichen Lebensstilen, Bedürfnissen und Tagesabläufen. Genau in diesen Begegnungen und Prozessen liegen die Risiken aber auch die Chancen der Stadt.
Die letzten Jahrzehnte haben eine zunehmende Partikularisierung der Lebenswelten und eine sinkende Toleranz gegenüber anderen Vorstellungen, Lebensentwürfen und Menschen gezeitigt. Die Einfamilienhäuser mit ihren Zäunen und Hecken stehen sinnbildlich für diese Vereinzelung. Gemeinsam in der Stadt leben und arbeiten ist das Gegenmodell zu dieser Trennung von Nutzungen und Menschen. Wir müssen wieder neu lernen, mit dem Unerwarteten und mit Reibungen umzugehen. Die produktive Stadt ist in jedem Fall ein Experiment. Als solches birgt sie neben Risiken oder der Notwendigkeit des Nachsteuerns vor allem die Chancen einer Kurskorrektur, von der wir alle profitieren. Die IBA’27 ist der Rahmen, in dem wir solche Experimente durchführen können.
Im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) Heidelberg entwickelte DGJ Architektur für und mit dem »Collegium Academicum« eine innovative, interaktive Wohnform für den Aufbau eines selbstverwalteten Studierendenwohnheims in Heidelberg. Das Collegium Academicum wurde von einer Gruppe junger Aktivist:innen im Jahr 2014 gegründet, um über Crowdfunding ein Konzept eines selbstverwalteten Wohnheims für 176 Studierende umzusetzen. Die Initiative versteht sich als Reaktion auf sowohl steigende Mieten und Wohnkosten als auch den Trend zu anonymisierten, kommerzialisierten Studierendenwohnheimen. Das »Collegium Academicum« ist auch ein Real-Labor zum Wohnen und Bauen, in dem auch hier im Erdgeschoss eine Werkstatt mit großer CNC-Maschine installiert ist, auf der die Bewohner:innen, basierend auf dem von DGJ entwickelten Open-Source-System, eigene Möbel und Trennwände herstellen und weiterentwickeln können.
Ergänzt wird das selbstorganisierte Wohnen durch die zentral platzierte Gemeinschaftsfläche, die den Bewohner:innen sowie anderen Stadtbewohner:innen Raum gibt, sich zu begegnen, Ideen auszutauschen und Initiativen zu starten. Diese Art von Projektlernen wird durch die bauliche Struktur aufgrund eines durchgängigen und von außen einsehbaren Erdgeschosses sowie der räumlichen Verknüpfung von Wohn-, Freizeit- und Arbeitsbereichen in besonderem Maße begünstigt. Nicht zuletzt kann die Selbstverwaltungsstruktur, ähnlich wie bei »dgj210 Arrival City 4.0«, als Bildungsprozess verstanden werden.
In Vorausschau war eine Anforderung des Collegium Academicum, ein Gebäude zu planen, das heute zum studentischen Wohnen genutzt werden kann, das perspektivisch aber zu einem späteren Zeitpunkt als altersgerechtes Wohnen genutzt oder umgebaut werden kann. Ein Aspekt, der heute bei den meisten Neubauten keine Berücksichtigung findet. Das Gebäude wurde daher mit flexiblen Grundrissen entwickelt, die sich im laufenden Betrieb und angepasst an unterschiedliche Lebenszyklen von den Bewohner:innen selbst umbauen lassen. Gegenüber der Möglichkeit einer vielfältigen Nutzbarkeit großzügig dimensionierter Räume, die aber nicht veränderbar sind, wurde beim ‚Collegium Academicum‘ eine kleiner strukturierte, aber flexible Konstruktion entwickelt, die es erlaubt, die Größe der Räume bei Bedarf zu verändern. Dies führt auch zu einer erheblichen Kostenersparnis. Die Wohnheimplätze können deutlich günstiger angeboten werden als im Heidelberger Wohnungsmarkt derzeit üblich.
Anmerkungen
[i] Es sei angemerkt, dass die moderne Stadtvision als Gegenmodell zu den Elendsquartieren in den Städten des neunzehnten Jahrhunderts zu verstehen ist und im Hinblick auf die prekären Lebensverhältnisse historisch durchaus berechtigt war. Die Funktionstrennung ergab sich auch aus der Notwendigkeit der Zentralisierung der Produktion und aus den störenden Auswirkungen der Fabriken insbesondere Lärm, Abgase und Abwässer.
[ii] Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (oder kurz: »CIAM-Moderne«) war eine internationale Architektenvereinigung, die 1928 unter anderem von Siegfried Giedeon und Le Corbusier gegründet wurde. Die in regelmäßigen Abständen abgehaltenen Treffen dienten zum Austausch von Ideen über Architektur und Städteplanung. Der CIAM hat die Grundlagen für den modernen Städtebau und die moderne Architektur gelegt.
[iii] Will Steffen et al., Global Change and the Earth System, Global Change and the Earth System (Springer-Verlag, 2005), https://doi.org/10.1007/b137870.
[iv] »The argument is that manufacturing cannot and should not be de-linked from typically urban ›knowledge-based‹ activities such as design and R&D. Or, to put it more strongly a manufacturing base is a necessary condition to develop and expand R&D and other high-level services. Production facilities are needed to produce small batches of innovations and new products, and test whether the concepts work in practice and researcher need to stay in touch with the production process.«, Willem van Winden et al., »Manufacturing in the New Urban Economy«, Manufacturing in the New Urban Economy § (2010), https://doi.org/10.4324/9780203847732., S. 2f.
[v] Thomas Sieverts, »Städtebau im Zeichen städtischen Nutzungswandels: Perspektiven für den öffentlichen Raum«, Schweizer Ingenieur und Architekt 108, no. Heft 45 (1990): 1285–91, https://doi.org/10.5169/seals-77547.
[vi] § 6a Urbane Gebiete, Baunutzungsverordnung (Verordnung über die bauliche Nutzung der Grundstücke) In der Fassung der Bekanntmachung vom 23.01.1990 (BGBl. I S. 132) zuletzt geändert durch Gesetz vom 04.05.2017 (BGBl. I S. 1057) m.W.v. 13.05.2017
[vii] Begriffsklärung: Die »produktive Stadt« bezieht sich auf die physische Herstellung von Gütern (manufacturing) und nicht auf den Dienstleistungsbereich (services). Dienstleistungen, Handel und Gastgewerbe sind traditionell in das Gefüge der Stadt integriert und vor allem der tertiäre Sektor hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.
[viii] Eberhard von Einem, »Triumph of the City: How Our Greatest Invention Makes Us Richer, Smarter, Greener, Healthier and Happier«, Raumforschung und Raumordnung 71, no. 2 (April 1, 2013): 173–75, https://doi.org/10.1007/s13147-013-0217-z.
[ix] Vgl. dazu: Michael Ehret, The Zero Marginal Cost Society: The Internet of Things, the Collaborative Commons, and the Eclipse of Capitalism, The Journal of Sustainable Mobility, vol. 2 (New York: Palgrave Macmillian, 2015), https://doi.org/10.9774/gleaf.2350.2015.de.00007.
[x] Quelle: Tagesschau: Internet-Knotenpunkt, Frankfurts Rechenzentren boomen, 25.09.2020 04:57 Uhr, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/rechenzentren-boom-frankfurt-101.html
[xi] Dieter Hassenpflug and Mark Kammerbauer, The Urban Code of China, The Urban Code of China (Basel, Berlin: Birkhäuser, 2012), https://doi.org/10.1515/9783034612067.
[xii] Dieter Hassenpflug and Mark Kammerbauer, The Urban Code of China, The Urban Code of China (Basel, Berlin: Birkhäuser, 2012), https://doi.org/10.1515/9783034612067. S. 91ff.
[xiii] Wolfgang Kabisch, »Öffentlich-Private Quartierwiederbelebung«, StadtBauwelt Einzelheft | Einzelhefte | Bauverlag Shop 26.2020, no. 228 (December 23, 2020): 51–55, https://www.bauwelt.de/rubriken/betrifft/Oeffentlich-private-Quartierswiederbelebung-Paris-3599662.html.
Über den Autor
Dr. Hans Drexler ist Mitglied im IBA’27-Kuratorium. Er leitet das Büro DGJ Architektur in Frankfurt am Main und forscht und unterrichtet seit 2005 in Baukonstruktion, Holzbau und nachhaltigem Bauen: 2005 bis 2009 an der TU Darmstadt als wissenschaftlicher Mitarbeiter, 2009 bis 2013 als Professor für Baukonstruktion und nachhaltiges Bauen an der Münster School of Architecture sowie 2013 bis 2018 als Professor für Konstruieren, Energie- und Gebäudetechnik an der Jade Hochschule in Oldenburg. Weitere Infos