Böckinger Straße
Eine besondere Idylle
Hühner gackern, ein Hahn stolziert umher, Tomaten und Zucchini sprießen – die perfekte ländliche Idylle. Sie befindet sich jedoch nicht in einem Dorf, sondern in der Böckinger Straße, mitten im Stuttgarter Norden. Hier, in einem Quartier das von sozialen Unterschieden, aber auch einer besonderen nachbarschaftlichen Solidarität geprägt ist, entsteht ein Vorhaben des IBA’27-Netzes. Es soll ein sozial durchmischtes Stadtquartier für verschiedene soziale Gruppen entstehen. Dafür arbeitet die städtische Wohnungsbaugesellschaft SWSG zusammen mit der Evangelischen Gesellschaft EVA. Die EVA ist Betreiberin es Immanuel-Grözinger-Hauses, dessen Bewohner das ländliche Paradies in Stuttgart geschaffen haben und pflegen.
Das 13-geschossige Gebäude ist ein Wohnheim für alleinstehende Männer in besonderen sozialen Schwierigkeiten. Das Leben hat es nicht gut mit ihnen gemeint: Komplizierte Biografien mit Suchtproblemen, sozialen Abstürzen und besondere Lebensumstände haben sie in das Männerwohnheim der Evangelischen Gesellschaft (eva) geführt. Die Beschäftigung im so genannten Nachbarschaftsgarten gibt ihnen Struktur und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. »Dabei sind sie durch gesundheitliche Probleme körperlich oft stark eingeschränkt. Auf dem Kartoffelacker trittsicher zu gehen, ist aufgrund der Gleichgewichtsprobleme für manchen kaum möglich«, erläutert Wolfgang Haag, Sozialarbeiter im Nachbarschaftsgarten. Umso wichtiger sind kleine Erfolgserlebnisse, wie die erfolgreiche Aufzucht von Gemüse und Obst oder die Betreuung der Nutztiere, zu denen neben Hühnern auch mehrere Bienenvölker gehören.
Die beiden Gewächshäuser auf dem Gelände sind noch ein Relikt der Vorbesitzer, die an diesem Standort bereits eine Gärtnerei betrieben. Schon damals kamen die Nachbarn und versorgten sich mit Obst und Gemüse, manche von ihnen kommen heute noch vorbei, um gegen eine Spende frisches Biogemüse zu erhalten. »Wir, die eva, wollen im Garten nichts erwirtschaften, daher geben die Leute das, was sie können. Verschenkte Äpfel kommen manchmal dann als Apfelkuchen wieder«, schmunzelt Armin Bubser, stellvertretender Leiter der Einrichtung. Aber nicht nur für das leibliche Wohl ist gesorgt, in der benachbarten Fahrradwerkstatt werden mit genauso viel Leidenschaft Drahtesel repariert. Diese Art der Beschäftigung gehört ebenso zum vielfältigen Angebot des IGH. »Ziel ist es, bei den Bewohnern eventuell verschütt gegangene Fähigkeiten wieder zu fördern. Wichtig ist vor allem, dass die Arbeit Spaß macht, dann bleiben sie motiviert.«
Ganz dabei sind auch die Beschäftigten in der Kreativwerkstatt, die sich im zweiten Stock des Hauses befindet: Mit Akribie und Ausdauer werden dort Mosaiken geklebt, Laubsägearbeiten ausgeführt und kleinere Schreinerarbeiten erledigt. »Unsere Vogelhäuschen sind äußerst beliebt, es gibt sie auch auf Bestellung«, erzählt die Arbeitsanleiterin Carola Pein, die die Männer geduldig anleitet. Die meisten hergestellten Gegenstände werden auf hauseigenen Bazaren, die zwei- bis drei Mal im Jahr stattfinden, gegen einen Obolus abgegeben.
Wichtiger Umschlagplatz, auch für Neuigkeiten aller Art, ist das Cafe-TAS, das sich an der Böckinger Straße befindet und einmal wöchentlich nachmittags geöffnet hat. Dorthin kommen nicht nur die Bewohner, sondern es ist genauso beliebt als Treffpunkt für die angrenzende Nachbarschaft. Vorbehalte, Hemmschwellen und Ausgrenzung sind kein Thema – dort zählt das Miteinander. »Und das funktioniert gut«, betont Armin Bubser. Man kennt sich, hilft auch mal in einer Notlage.
»Wie das zukünftig wird, wenn ein Teil der Betreuungsplätze in anderen Gebäuden integriert werden soll, wird sich zeigen. Dort müssen gute Beziehungen erst wieder wachsen. Allerdings ist es ebenso eine Chance für die Integration.«
Nach der Sanierung des IGH soll in dem Hochhaus nach heutigem Planungstand »nur« noch die stationäre Langzeithilfe, das heißt 72 Plätze, untergebracht werden – anstatt der bisherigen 144 Plätze, die zum Teil langfristig, manche aber auch nur wochenweise belegt sind. Ob die neue Struktur in Wohngruppen – um die Gemeinschaft zu fördern – oder als Einzelappartements mit eigenem Bad angelegt wird, ist noch nicht entschieden.
In direkter Nachbarschaft befindet sich außerdem die Ernst-Abbe-Schule, eine Sonderpädagogische Schule für Kinder mit Sehbehinderungen. Sie bedeutet für das IGH ebenfalls gelebte Integration, denn die Kinder kommen im Rahmen eines Kooperationsprojekts regelmäßig in den Nachbarschaftsgarten und lernen dort nützliches über Tiere und Pflanzen. Mit ihrer typisch kindlichen Neugier und ohne Vorbehalte bereichern sie nicht nur ihren eigenen Schulalltag, sondern insbesondere auch den Alltag der Bewohner.
Text: Ursula Hoffmann