16.02.21
Beitrag von Andreas Hofer

Die Stadt der kurzen Wege

Das Essay von IBA’27-Intendant Andreas Hofer befasst sich mit dem Auto und seiner Nutzung in Zukunft. Es erschien in der Novemberausgabe 2020 im Magazin NEMO (Neue Mobilität in der Region Stuttgart).

Wer wüsste es wohl besser als der Autopapst Ferdinand Dudenhöfer? »Außerhalb der Zentren fahren die Menschen mit den persönlichen Fahrzeugen am besten«, sprach der Experte und ergänzte: »Auf Strecken bis zu 200 Kilometern ist das Auto wirtschaftlich und bezüglich Komfort unschlagbar.« Damit gehen und gingen allerdings mancherlei Probleme einher. Kurz nachdem in den sechziger Jahren der individuelle Autobesitz für die Mittelschicht erschwinglich wurde, folgte die grundsätzliche Kritik an einer explodierenden Automobilität: Autos zerstören und zerschneiden den städtischen Raum, verstellen ihn, da sie meist ungenutzt irgendwo rumstehen, bringen bei Unfällen jedes Jahr Menschen um, wie dies sonst nur Kriege und Pandemien schaffen, und sie belasten mit ihren Abgasen die Umwelt. In den letzten Jahren wuchs zudem das Bewusstsein, dass Verbrennungsmotoren wesentlich zum Klimawandel beitragen.

Schon in den siebziger Jahren entwarfen Designer modulare Kleinwagen, später folgten Sharing-Konzepte, Reallabore für ein neues Mobilitätsverhalten, Smart und Tesla. Gleichwohl steigen Gewicht, Leistung, Größe und gefahrene Kilometer der bis heute fast ausschließlich mit fossilen Treibstoffen betriebenen Autoflotte stetig. Gerade die Autoindustrie in Hochlohnländern wie Deutschland sucht den Spagat zwischen margenstarken Familienpanzern, den Zwängen von EU-Normen und den Möglichkeiten einer Elektrifizierung der Flotten. Das Auto steht damit exemplarisch für die Widersprüche zwischen individuellem Nutzen, Gemeinwohl, wirtschaftlichem Überleben und Zukunftsfähigkeit.

Aus der Perspektive des autobesitzenden Familienmenschen hat Ferdinand Dudenhöfer mehr als recht: für den gilt der Komfortvorteil nämlich selbst in den autogerecht ausgebauten Zentren. Wenn ich ein Auto habe, begleitet es mich durch den Tag. Das Auto ist ja auch fahrendes Heim, in ihm liegt Krimskrams herum, Snacks und Drinks; Musik kann nach Belieben aufgedreht werden und im Kofferraum sind die Skischuhe, die ich schon lange meiner Schwägerin bringen wollte. Die Ohnehin-Kosten sind hoch und das eine oder andere Knöllchen hat auch noch Platz im Budget.

Gesellschaftliche Verhaltensmuster durchbrechen können nur Gesetze, ökonomischer Zwang oder technologische Disruption. Während auf nationaler Ebene eine schwer nachvollziehbare Diskussion über die maximale Geschwindigkeit auf Autobahnen geführt wird, ist es auf der Ebene der Europäischen Union möglich, Grenzwerte festzulegen, die die Industrie zum Handeln zwingen. Dies ist eine wichtige und erfreuliche Botschaft. Nur universelle Institutionen können globale Probleme angehen. Wir sollten sie angesichts der absehbaren Herausforderungen schützen.

Der nächste Schritt wäre, die Ziele einer nachhaltigeren Fortbewegung ökonomisch abzubilden, der Mobilität ihren ehrlichen Preis zu geben. Die fossile Wachstumsgesellschaft hat ein feines Netz an Förderungen und Abhängigkeiten geschaffen. Die weitgehende Ausrichtung der Infrastruktur und der Siedlungsweise auf den Autoverkehr erschwert Veränderungen. Korrekturen stoßen auf erbitterten Widerstand, wie zum Beispiel der französische Präsident Emmanuel Macron bei den Gelbwestenprotesten erleben musste. Dazu kommt eine Koppelung des Autobesitzes an gesellschaftliche Rituale und Werte, die in der Region Stuttgart besonders deutlich werden.

Angesichts der Dringlichkeit bleibt jenseits von Katastrophenszenarien eigentlich nur die Hoffnung auf technologische Disruption und planerische Intelligenz. Die technischen Elemente für ein anderes Verkehrssystem – die Elektromobilität und die Entwicklung digitaler Techniken, insbesondere des autonomen Fahrens – sind in den letzten Jahren immer deutlicher sichtbar geworden. Die digitale Kommunikation hat die Kontaktmöglichkeiten revolutioniert, die Corona-Krise sorgt für zusätzlichen Schub. Wenn wir Kommunikation von physischer Präsenz und Mobilität entkoppeln, fallen vor allem im beruflichen Bereich viele Wege weg. Wir treffen uns in wohnortnahen Co-Working-Spaces statt in zentralen Bürogebäuden, nutzen Videokonferenzen und entwickeln dabei vielleicht auch eine neue Wertschätzung für den persönlichen Kontakt.

Weniger Verkehr heißt nicht weniger Mobilität. Die Zahl der Transportmittel sinkt drastisch, wenn sie zielgerecht und mit hoher Auslastung unterwegs sind. Dies können Automobile leisten, wenn sie im besten Wortsinn »selbstfahrend« sind – bedarfsgerecht und auf Zuruf. Die erreichbaren Effizienzgewinne und der Komfortgewinn sind allerdings so groß, dass die Verkehrsmenge zu explodieren droht, wenn Stammkunden des öffentlichen Verkehrs, wenn auch Kinder und ältere Menschen vom ÖPNV auf autonome Fahrzeuge umsteigen. Um dies zu verhindern, braucht es beherzte politische Entscheide. Auf jeden Fall führt eine bedarfsorientierte Mobilität zu einer deutlichen Reduktion des ruhenden Verkehrs. Parkhäuser auf wertvollen innerstädtischen Flächen und Park+Ride-Anlagen an den Haltestellen des öffentlichen Verkehrs können neu und anders genutzt werden.

Hinzu kommt das immense Potenzial von Stadt- und Raumplanung und der Architektur. Hier kann und will die Internationale Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27) mit ihrem Credo zu dichten und gemischten Quartieren in einer produktiven Region einen wesentlichen Beitrag leisten. Die räumliche Trennung von Gewerbe, Industrie und Wohnen ist für viele moderne Produktionsweisen nicht mehr angemessen. Eine Mischung der Funktionen in einer »Stadt der kurzen Wege«, wie wir sie aus Zeiten vor der Moderne kennen, ist heute wieder möglich. In gemischten urbanen Quartieren denken heißt auch, sich städtischen Konflikten zu stellen. Wieso aber sind beispielsweise die Gesetze, die den Schallschutz beim Straßenlärm regeln, nicht auch für Gaststätten und produzierende Betriebe anwendbar?

Neben der Anpassung gesetzlicher Rahmenbedingungen braucht es vor allem auch neue Planungsstrategien, um berechtigte Ängste auszuräumen und Konflikte zu verhindern. Die Gewerbetreibenden und die Industrie fürchten, dass durch die Bedürfnisse der Wohnenden ihre Tätigkeit eingeschränkt wird, dass Landpreise explodieren und sie am Schluss verdrängt werden. Für die Öffnung und Verdichtung monofunktionaler Gewerbe- und Industriegebiete braucht es deshalb auch eine Bodenpolitik, die eine spekulative Aufwertung ausschließt. Es bietet sich eine Koppelung mit der sozial gerechten Wohnraumversorgung an. Überdies müssen für die wenigen Gewerbe- und Industrienutzungen, die aufgrund ihrer Logistik oder großmaßstäblichen Produktion nicht in Mischzonen funktionieren, weiterhin reine Gewerbe- und Industrieflächen zur Verfügung stehen, wenn auch mit deutlich reduzierten Flächen.

Die Planer fürchten sich vor Nutzungskonflikten, die im Moment durch schematische Zonierungen der Nutzungen mit Abstandsflächen verhindert werden. Wobei an reine Industrie- und Gewerbegebiete und an ihren Außenraum bisher kaum gestalterische Ansprüche gestellt werden und diese schlecht in die lokalen Rad- und ÖPNV-Netze eingebunden sind. Ihre Requalifizierung als wertvoller städtischer Raum, angereichert durch neue Funktionen wie das Wohnen, macht die Siedlungsstruktur engmaschiger und verkürzt letztlich auch viele Wege auf fahrradtaugliche Distanzen. Nicht zuletzt bieten eingeschossige Gewerbehallen mit viel Abstand und großen oberirdischen Parkierungsflächen ein gewaltiges Verdichtungspotenzial. Die Flächenkonkurrenz, das Primat der Innenentwicklung, der Mangel an günstigem Wohnraum, der mittlerweile ein wichtiger Treiber des Fachkräftemangels ist, ließen sich hier mit einer Verbesserung der ökologischen Qualität des Siedlungsraums verbinden.

Konzepte und Grundrisstypologien für ein Zusammenwachsen von Produktion, Wohnen und Gewerbe in dichten urbanen Quartieren sind längst entwickelt und werden an vielen Orten Europas mit großem Erfolg ausprobiert. Sie bereichern die Architektur, machen die neuen Quartiere zu attraktiven Teilen des urbanen Raums, sichern die Lebensqualität beim Wohnen und Arbeiten und helfen bei der Verringerung individueller Mobilität. Eine bauliche Verdichtung und Aufwertung an den heute oft wenig attraktiven Knotenpunkten des öffentlichen Verkehrs in Verbindung mit neuen dezentralen Angeboten zum Arbeiten – etwa von mehreren Unternehmen gemeinschaftlich genutzte Co-Working-Spaces – könnten einen weiteren wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der Verkehrsprobleme leisten.

Es gibt wenige Orte auf der Welt, die über ein ähnlich breites Knowhow im Mobilitätsbereich verfügen und die gleichzeitig so stark unter den Folgen des einseitig auf den Autoverkehr ausgerichteten Systems leiden wie die Region um die Landeshauptstadt Stuttgart. Und es gibt gleichzeitig keinen besseren Platz um zu zeigen, dass es auch grundsätzlich anders geht. Wenn hier, wo vor 150 Jahren das Auto erfunden wurde, eine zukunftsfähige, durchlässige, vielfältige und lebenswerte Stadtlandschaft entsteht, sichert dies auch den wirtschaftlichen Wohlstand und inspiriert weit über die Region hinaus.

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