Beitrag aus dem IBA’27-Team
Der Sprung des Weissenhofs in die Zukunft
»Das Neue hat keine Klagen über böse Zeiten und schlechte Menschen von heute, das Neue hat keine Sehnsucht nach allem der guten alten Zeit. Die Menschen von heute und die Menschen der Zukunft sind froh, gesund und mutig, frei, lebensbejahend und ohne ›Paragraphen‹.«
Richard Döcker, Bau und Wohnung (Stuttgart, 1927)
Die Werkbund-Siedlung auf dem Weissenhof in Stuttgart ist heutzutage mit öffentlichen Verkehrsmitteln von Paul Bonatz’ Hauptbahnhof aus innerhalb von zehn Minuten zu erreichen. Doch wenn man aus der U-Bahn auf dem Killesberg oder aus dem Bus vor der Kunstakademie aussteigt, ist die berühmteste und internationalste Siedlung der 1920er-Jahre nicht leicht zu finden. Über die verkehrsreiche Straße »Am Kochenhof« nähern sich die meisten heute quasi dem Rücken der Siedlung. Für viele Besucher:innen unerwartet, gibt es auch andere, oft versteckte Wege, über die Staffel von der Friedrich-Ebert-Straße zum Bruckmannweg ins verlorene »Herz der Siedlung« etwa, oder den gefühlten Hintereingang über die Oskar-Schlemmer-Straße zum Peter-Behrens-Haus.
Eine unbestreitbare Realität kann man aber gleich feststellen: Es fehlt an einem Leitsystem im öffentlichen Raum, der den Besucher:innen eine sinnvolle Orientierung auf dem Areal ermöglicht. Kurz gesagt: Es fehlt ein Eingang, eine Adresse, ein Foyer; ein Ort des Ankommens, des Zusammentreffens und des Austausches, von dem sich die Siedlung und ihre Umgebung erkunden ließen.
In der Ausstellungszeit bildete ein Kassenpavillon das Tor und kanalisierte die Besucherströme. Heute steht man vor einer autofreundlichen Kreuzung, einer berühmten Kirche, die Uneingeweihte kaum als solche erkennen und die schon vor dem Zweiten Weltkrieg ihr schlichtes, elegantes Äusseres verloren hat. Und dann ist da noch ein kleiner Pavillon, der seiner Rolle als Eingang zur Akademie der Bildenden Künste kaum gerecht wird und ein wenig orientierungslos sein Dasein fristet; ein Fremdkörper auf der Suche nach dem richtigen Platz im Gefüge.
Wo ist heutzutage der Eingang der Weissenhofsiedlung? Wo sind die Plätze und Räume, die zum Treffen und Verweilen einladen?
Gibt es immer noch eine Vorder- und Rückseite, so wie schon der städtebauliche Entwurf von Mies van der Rohe es vorsah und die durch die Ausrichtung der gebauten Häuser noch heute sichtbar sind?
Wo beginnt und endet die Siedlung? Funktioniert diese als solche?
Einen öffentlichen Raum in der Siedlung gibt es eigentlich nicht. Es sind eher Restflächen, die den Zugang zu den Häusern ermöglichen und den neugierigen Besucher:innen eine Annäherung mit einer gewissen Distanz zu jenen Schaufenstern der Hausbaukunst bieten.
Von außen spürt man immer noch die Energie, Radikalität und Zeitlosigkeit der Architektur, und man kann fast ahnen, wie diese von den Mieter:innen gelebt und genossen wird. Angesichts der Enge in den knappen Wohngrundrissen vermisst man umso mehr ein großzügiges Umfeld.
Wie kann man die zugeparkten Straßen und halbprivate Wege entlang der Vorgärten aufwerten und sie als angenehme Bereiche gestalten, die das bunte Konglomerat von unterschiedlichen Eigentümer:innen, Maßstäben und Nutzungen im Quartier verbinden?
Wie löst man die Nutzungskonflikte zwischen den Bewohner:innen, Besucher:innen, Student:innen und Mitarbeiter:innen und ermöglicht man den Kindern das sichere Spiel? Welchen Spielraum gibt es im Gesamtquartier für Außenräume mit Aufenthaltsqualität, die auf eine sich schnell verändernde Welt und Bedürfnisse der Menschen flexibel und resilient reagieren können? Wie kann das Weissenhofmuseum im Doppelhaus Le Corbusier im alltäglichen Trubel und mit Blick auf das Jahr 2027 entlastet werden?
Gibt es überhaupt eine Zukunft für den Weissenhof?
Zum hundertsten Geburtstag der Werkbund-Ausstellung »Die Wohnung« im Jahre 2027 – zugleich dem Präsentationsjahr der Internationalen Bauausstellung 2027 StadtRegion Stuttgart (IBA’27) – wird eine hohe Besucherzahl erwartet: Lokale, nationale und internationale Gäste, die diesen Ort der Synergien und Widersprüche, des Lernens und Austauschs, der Ruinen und Rekonstruktionen, der fachlichen und politischen Debatten und Kontroversen (weiter-) erleben werden. Dies war deshalb der Anlass, dass die Landeshauptstadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg gemeinsam mit der IBA’27 einen internationalen Ideenwettbewerb durchführen, der den größeren Perimeter des Weissenhofs in den Blick nimmt. Dabei sind es Glücksfälle, dass vor einigen Jahren die Weissenhofsiedlung an die städtische Wohnungsbaugesellschaft SWSG überging, die nun eine langfristige Strategie für ihren Erhalt entwickeln muss, dass die Evangelische Kirche Umbau- und Erneuerungspläne für die Brenzkirche hat und dass die Kunstakademie dringend zusätzlichen Raum benötigt. Damit können in den nächsten Jahren konkrete bauliche Projekte entwickelt und umgesetzt werden. Vor allem bietet sich hier eine Neugestaltung des Akademiezugangs an, der zum »Foyer« für den Weissenhof werden kann.
Die baulichen Perspektiven lösten umfangreiche Diskussionen über die Bedeutung und Zukunft des Weissenhofs aus, an denen sich unterschiedlichste Menschen und Interessensgruppen beteiligten. Die Spielräume im kleinteiligen und denkmalgeschützten Siedlungsbereich des Weissenhofs sind beschränkt und es braucht eine große Sensibilität und Respekt um sie zu entdecken und produktiv zu machen. Aber vor allem Mut, Aufgeschlossenheit und Kompromisse. Die Resultate des Wettbewerbs werden in einem internationalen Symposium Ende Juni 2022 breit diskutiert.
Die Ausstellung 1927 zeigte anhand einer relativ kleinen Wohnsiedlung wie »der moderne Großstadtmensch« wohnt. Die IBA’27 will zu ihrem Ausstellungsjahr große, dichte, lebenswerte und produktive Häuser und Quartiere in der ganzen Region Stuttgart präsentieren, die Funktionen und Lebensbereiche mischen, dadurch Nähe zwischen Menschen schaffen und das öffentliche Leben feiern. Die reine Wohnsiedlung ist heute nicht mehr die Referenz, die Funktionstrennung als Erbe der Moderne wollen wir überwinden und neue Antworten finden auf die Folgen der modernen Industriegesellschaft: Mobilität, Verdrängung, Landschaftsverlust und Klimawandel. Dennoch bleibt der Weissenhof ein Monument des Aufbruchs und verdient als solcher Wertschätzung und eine Auffrischung.
All die Widersprüche und Wunden der letzten hundert Jahre sollen nicht versteckt werden, es geht vielmehr um eine Fortschreibung dieser Geschichte und die Beseitigung offensichtlicher funktionaler und gestalterischer Mängel. Dabei muss immer der Anspruch bestehen, in kritischer und respektvoller Rückschau jetzt Architektur zu schaffen, die zeitgenössisch weit in die Zukunft trägt und noch in hundert Jahren als beherzter Schritt verstanden wird. Das sollte das Ziel und der Traum Stuttgarts sein; einer Stadt, die vor hundert Jahren schon einmal als Pionierin der Welt zeigte, wie wir wohnen und leben werden – und dies noch heute noch tun.
Über die Autorin
Dr. Raquel Jaureguízar, geboren 1986 in Madrid, ist seit Herbst 2018 Projektleiterin bei der IBA’27. Ihre Schwerpunktthemen sind der Umgang mit dem Erbe der Moderne und die produktive Stadt. Ihre Leidenschaft ist die Weissenhofsiedlung, durch die sie seit 2013 Führungen gibt. Außerdem ist sie Mitglied im Verein Freunde der Weissenhofsiedlung und des Deutschen Werkbunds Baden-Württemberg.