20.03.24
Einblicke

Auf der anderen Seite der Gleise

Die Schorndorfer Vorstadt ist von Gewerbebetrieben geprägt. Außerhalb des historischen Kerns, zwischen »Mittlerem Stadttor« und Rems, siedelten sich seit dem 15. Jahrhundert neben Kleinbauern und Handwerkern vor allem Gerbereien und Mühlbetriebe an. Lärm und üble Gerüche sollten das enge Miteinander im Stadtkern und die Gesundheit der Menschen nicht beeinträchtigen. Die Nähe zum Fluss bot darüber hinaus ein produktives Umfeld: Der von der Rems gespeiste, das Viertel querende Mühlgraben lieferte Energie und »entsorgte« zugleich das entstehende Abwasser. Sechs Mühlen arbeiteten zu Hochzeiten im Mühlenviertel und der angrenzenden Au. Neben Getreide verarbeiteten sie Baumrinde, Holz, Saaten oder Früchte, Gewürze und auch Tabak. Die von ihnen geschaffene Infrastruktur bildete das Rückgrat für die später in der Vorstadt rasant einsetzende industrielle Revolution.

Mit dem Ausbau Schorndorfs zur württembergischen Landesfestung seit 1538 hatte sich die bis heute problematische, vom Zentrum isolierte Lage der Vorstadt verschärft. Der historische Stadtkern war jetzt von einem massiven Festungswall umgeben, der erst seit 1800 mühsam wieder geschleift wurde. Die wachsende Stadt brauchte Raum und offenbar auch frische Luft – so zumindest die Meinung im Stadtrat. Die einsetzende Industrialisierung entfaltete eine große Dynamik auch in Schorndorf, das schon bestehende Netzwerk von Gewerbe und Infrastrukturen begünstigte diese Entwicklung. So wurde die Vorstadt zu einem wichtigen Schauplatz der technischen Revolution in der Region Stuttgart. Ab den 1830er-Jahren eröffneten in rascher Folge die Fingerhutfabrik Gabler in der ehemaligen Schleifmühle (1824), die Tuchfabrik Binder in der Stadtmühle (1831), die bis 2009 bestehende Lederfabrik Christian Breuninger (1843) und weitere Fabriken.

Im Sommer 1861 schließlich band die Eröffnung der Remsbahn Schorndorf an den überregionalen und internationalen Güterverkehr an. Die Anlieferung der als Brennstoff begehrten Kohle förderte den wirtschaftlichen Boom weiter. Städtebaulich aber schufen Bahnhof und Gleise eine neue, breite Barriere zwischen Altstadt und den Stadtvierteln im Norden. Erst in den 1920er-Jahren wurde sie durch den Bau einer Unterführung wenigstens punktuell durchbrochen.

Bis heute ist die vom ehemaligen Mittleren Tor abgehende Vorstadtstraße die zentrale Verbindung zwischen Zentrum und Vorstadt – das historische Stadtkataster verzeichnet hier den ältesten Gebäudebestand des Stadtteils. Entlang dieser Achse hatten sich im Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung Gasthäuser, Handwerksbetriebe, Bäckereien und Metzger angesiedelt. Ein buntes (vor-) städtisches Leben, von dem nicht mehr allzu viel zu sehen ist.

Mit dem Strukturwandel in der Nachkriegszeit und besonders der Wirtschaftskrise 1966/67 begann für die einst boomende Vorstadt ein lange andauernder Niedergang. Viele Betriebe verlegten die Produktion an andere Standorte oder stellten sie ganz ein. Die starke Belastung der Vorstadtstraße als Zubringer zur B29 machte das Leben dort immer unattraktiver. Zwar gab es seit den 1970er-Jahren, teils auf ehemaligen Gewerbeflächen, Nachverdichtungen durch den Bau von Wohnungen und Siedlungen, doch bleibt die Vorstadt bis heute zwischen Rems und Bahntrassen isoliert, ein Zusammenwachsen der separierten Stadtteile gelang bisher nicht.

Die Stadtverwaltung plant in naher Zukunft ein gesamtstädtisches Konzept zu erstellen, bei dem auch die Entwicklungspotenziale der Nordstadt aufgezeigt werden. Zwei wichtige Wohnbauprojekte der IBA’27 – das »Quartier der Generationen« und das genossenschaftliche Projekt »Leben in der Vorstadt« – liegen zwischen Bahnhof und Rems. Anziehungspunkte für Architekturinteressierte sicherlich. Vielleicht sogar aber die Katalysatoren für die nachhaltige Entwicklung der Vorstadt zu einem attraktiven, selbstbewussten, von Gewerbe und Wohnen gemischt geprägten Stadtquartier.

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