01.09.22
Beitrag aus dem IBA’27-Kuratorium

Abschied vom Homo Faber

von Andreas Kipar

»Architektur muss Raum schaffen zum Arbeiten, zum Leben, zum Wohnen. Sie muss öffentlichen Raum zur Begegnung schaffen, Plätze, Parks, Tempel, Theater, wo dann auch Begegnung stattfindet.« Werner Ruhnau in: Magazin Berührungspunkte Nr. 25, Februar 2014

Der Neckar bei Nürtingen. Bild: IBA’27 / Niels Schubert

Derzeit erlebt Landschaft europaweit eine Renaissance. In Zeiten des Klima- und des gesellschaftlichen Wandels mit all seinen neuen Formen des Zusammenlebens sowie der Rückbesinnung auf natürliche Kreisläufe lassen sich der bebaute und der unbebaute Raum kaum noch auseinanderdividieren. Das gilt besonders in unseren verdichteten Metropolregionen mit ihrer wachsenden Sehnsucht nach einer wie auch immer gearteten Manifestation des Natürlichen, des Gesunden.

Dabei ist dieses Thema nicht neu: Der vor über 20 Jahren vom Europarat verfassten »Europäischen Landschaftskonvention« liegt ein umfassendes und ganzheitliches Landschaftsverständnis zugrunde, in dem Stadt und Land zusammen gehören. Landschaft wird hier nicht mehr als passives Objekt gesehen, sondern als Grundbestandteil des europäischen Natur- und Kulturerbes, der wesentlich zur Herausbildung lokaler Kulturen beiträgt.

IBA bedeutet zwar Internationale Bau-Ausstellung, es geht aber längst immer weniger um das Bauen, dafür immer mehr um das Kultivieren von Prozessen, um urbane Verwandlungen, wie sie auch der europäische Green Deal ins Auge fasst. Hier steht nicht mehr das Bauen im Vordergrund, sondern die Transformation, das Kultivieren produktiver Räume. Für die IBA’27 Stuttgart ist das ein zentrales Anliegen.

Backnang, Stadtteil Maubach. Bild: IBA’27 / Niels Schubert

Auch die industrielle Revolution hatte im 19. Jahrhundert eine urbane Umwälzung ausgelöst. Der Schritt aus der befestigten Stadt über ihre mittelalterlichen Stadtmauern hinaus, das Schleifen von Wallanlagen, war ein Schritt ins Freie, in die Landschaft.

Dabei ging die Erweiterung des Städtischen in der Regel auf Kosten des Natürlichen. Die Zukunft der Stadt wurde weiterhin vom Gebauten aus definiert, Natur blieb Dekor oder durfte sich höchstens – wie eine von Gebäuden und Straßen umflossene Insel – als gestaltete Parkanlage ausdrücken.

Aus dem umgebenden Land wurde derweil eine »Zwischenstadt« und die wachsenden Städte drohten zur Peripherie ihrer selbst zu werden.

Vorbild IBA Emscher Park

Mit dem heutigen umfassenden und ganzheitlichen Landschaftsverständnis konnte diese Entwicklung, wenn nicht überall gestoppt, so doch gebremst und hier und da sogar umgedreht werden: Es war die IBA Emscher Park 1989/1999, die im Ruhrgebiet den krisenhaften Strukturwandel innovativ begleitete und den Grundstein für heutiges wie für zukünftiges Handeln legte. Das groß angelegte Planungsformat war die erste IBA, die Landschaft in den Mittelpunkt stellte. Geschäftsführer Karl Ganser – ein Moderator wie heute Andreas Hofer ein Moderator ist – brachte es auf den Punkt: »Landschaft ist unsere Infrastruktur.«

Die IBA Emscher Park 1989/1999 war weitsichtig genug, um den notwendigen Strukturwandel von Kohle und Stahl zu einer neuen Dienstleistungskultur zu fördern. Zehn Jahre, mehr als 100 Projekte, haben ein Erbe hinterlassen, das weltweit als Blaupause für wandlungsbedürftige Industrieregionen zitiert wird.

Dazu gehören eine Perlschnur von Projekten und Formaten wie die Emscher Renaturierung, der Emscher Landschaftspark, das Unesco Kulturerbe Zollverein, der preisgekrönte Landschaftspark Duisburg Nord, die Europäische Kulturhauptstadt Ruhr 2010, die Grüne Hauptstadt Europa Essen 2017 sowie unzählige weitere Einzelvorhaben, die ihren Ausgangspunkt in den 1990er Jahren hatten. Die Zukunft steht mit der Internationalen Gartenausstellung Metropole Ruhr 2027 vor der Tür.

Landschaftspark Duisburg Nord. Bild: Thomas Berns

Von Essen in die Region Stuttgart

Das Betreten neuer Felder heißt, soziale Distanzen zu überbrücken und neue Beziehungen zu knüpfen. Das Essener Strahlenmodell im Masterplan »Freiraum schafft Stadtraum« und das Programm »Neue Wege zum Wasser« sind Prozesse, die viele Hundert Einzelprojekte sammeln, bewerten und integrieren. Der Emscher Landschaftspark hat Bilder im Kopf kreiert und dazu geführt, dass Grünzüge übergeordnete Landschaftsräume definieren. Eine zellenartige, räumliche Struktur hat dem gesamten Ruhrgebiet eine neue räumliche Dimension gegeben.

Die reine »Stadt«, das reine »Land« sind konstruierte Gegensätze, die wir hinter uns lassen. Heute schaffen wir multikodifizierte Räume und Bezugssysteme – und genau das ist Landschaft. Das ist der Paradigmenwechsel, der von der IBA Emscher Park zur IBA’27 StadtRegion Stuttgart führt: Wir reden nicht mehr von Städten, sondern von urbanen Landschaften, von Stadtlandschaften.

Das Wort der Zukunft lautet »Begabung«. Welche Begabungen bringen wir als Menschen, als Institutionen, als Landschaft, als Raum mit? Etwas ganz Neues: Das, was wir haben, können wir einsetzen, um Begabungen zu fördern, zu potenzieren. Es geht darum, die Potenziale sichtbar zu machen, damit durch Vernetzung und mit Hilfe von sozialen Medien Partizipationsmöglichkeiten deutlich werden. Vernetzung ermöglicht Kommunikation zwischen den Menschen und Orten. Zudem schafft sie Identifikation auf unterschiedlichsten Ebenen. Daran ist in Zukunft zu arbeiten.

Mit der IBA’27 eröffnen sich in der Region Stuttgart Möglichkeiten, diese Begabungen auszuloten und in Projekte umzusetzen: Wie machen wir die Murr in Backnang und die Sanierung ihres Flusslaufs zum roten Faden der Stadtentwicklung? Wie verbinden wir die Bürgerbeteiligung und den breiten Wunsch nach Freiräumen und Begegnungsstätten in der Stuttgarter Leonhardsvorstadt mit der urbanen Planung? Wie setzen wir die Integration des ehemaligen Postareals in das soziale, kulturelle und produktive Leben von Böblingen um?

Die Murr in Backnang. Bild IBA’27 / Niels Schubert

Bei der Weissenhofsiedlung gehen wir von einer vor 100 Jahren entstandenen Siedlung aus und integrieren sie jetzt in die Stadtlandschaft. Projekte sind nicht mehr auf das Baulos begrenzt. Alle Projekte der IBA’27 haben eine Strahlkraft nach außen, sie sind auch sozial inklusive Projekte. Und sie rechnen mit dem Faktor Zeit. Was für die IBA Emscher Park wie für die IBA Fürst-Pückler-Land galt, gilt auch hier: die besten Früchte zeigen sich in der Entwicklung, im gleichsam natürlichen Wachstum der Projekte nach zehn, zwanzig Jahren.

Die lebenswerte, die gesunde Stadt

Das Verhältnis von Stadt und Land verändert sich radikal. Lange galt das Primat der Stadt, die urbane Grenzen sprengt und sich in Metropolzonen mit anderen Städten verzahnt. Jetzt kehrt sich die Entwicklung um: Es ist die Landschaft, die im positiven Sinn die Stadt »erobert« und sie mit Natur durchmischt wie Hefe den Brotteig. Wenn wir jetzt die Stadt »umbauen«, haben wir nicht mehr das rein funktionale Bild der alten Stadt vor Augen, sondern einen Hybrid aus Bau-, Frei- und Naturraum. Diese neuen urbanen Landschaften sind in die Zukunft gerichtet, sie sind produktiver, flexibler, resilienter, klimaadaptiv. Sie bilden Raum für Wildnis in der Stadt und für noch offene Aneignungen – für Veränderungen.

Kunstperformance beim IBA’27 Plenum #5 »Der Fluss gehört allen«. Bild: IBA’27 / Ralph Kloß

Und vor allem: sie gehen vom Menschen aus. Das Ruhrgebiet wie die StadtRegion Stuttgart wurden durch industrielle Arbeit definiert. Sie standen in der Tradition eines rational geprägten Homo Faber, der sich in funktional organisierten Räumen bewegte. Jetzt betritt der Homo Ludens die Bühne. Er wendet sich nicht unernst von der Welt ab, sondern begreift sie spielerisch, will sie erleben und verändern. Dafür braucht er neue Räume, neue Stadtlandschaften. Er braucht dafür Natur, gesunde Luft, gesundes Wasser, gesunden Boden.

Auf der Stuttgarter Neckarinsel. Bild: IBA’27 / Felix Plachtzik

Aber Natur allein schafft aus sich heraus nicht unbedingt lebenswerte Verhältnisse, das Biotop bleibt asozial. Natur darf vom Menschen kultiviert und eingesetzt werden, um Landschaft, Stadtlandschaft zu gestalten. Die Vision einer lebenswerten Stadt wird nur erreicht, wenn unterschiedliche Ziele nicht getrennt, sondern in planerischer Voraussicht zu einer integrierten Entwicklungsstrategie verbunden werden. Die klimafreundliche, umweltfreundliche und ressourcenschonende Stadt ist nicht ohne die gerechte, inklusive und für alle sichere Stadt zu haben – und sie ist auf die produktive, innovative und wettbewerbsfähige Stadt angewiesen.

Über den Autor

Andreas Kipar (Bild: Franziska Kraufmann)
Andreas Kipar. Bild: IBA’27 / Franziska Kraufmann

Der Landschaftsarchitekt BDLA und Städtebauer Andreas Kipar ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter des internationalen Landschaftsarchitekturbüros LAND mit Sitz in Deutschland, Italien und der Schweiz. Er studierte Landschaftsarchitektur an der Universität GHS Essen sowie Architektur und Städtebau am Polytechnikum Mailand, wo er seit 2009 Öffentliche Raumgestaltung unterrichtet.

Er ist ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau- und Landesplanung (DASL), des Bundes Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA), des Italienischen Verbandes der Landschaftsarchitekten (AIAPP) und des Italienischen Instituts für Stadtplanung (INU). Er ist außerdem Urheber des Mailänder Modells »Raggi Verdi« (grüne Strahlen), das auch in Essen bei der grünen Hauptstadt Europas 2017 Anwendung findet.

Andreas Kipar ist Mitglied im Kuratorium der IBA’27.

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