26.09.24
Stimmen zur IBA’27

Mischen possible!

Für die IBA’27 liegt die Zukunft in der produktiven Stadt – Wir wollen ja nicht enden wie Zürich-West

von Axel Simon

Auf meinem Velo fahre ich unter der Hochstraße hindurch. Ja, auch in der Schweiz hat der Stadtraum manchmal Automaßstab. Der Stadtteil, durch den ich fahre, heißt noch immer »Industriequartier«, ist es aber nicht mehr. Als ich zum Jahrtausendwechsel nach Zürich zog, hat man noch vom »Trendquartier« gesprochen. Die leeren Produktionshallen und -etagen füllten Clubs und Kreativwirtschaft. Heute sind auch die wieder verschwunden und mit ihnen ein Großteil des industriellen Bauerbes. An dessen Stelle stehen nun Büroblöcke und exklusive Wohnhochhäuser. Teuer, langweilig, homogen. Die Behörden haben Zürich-West »zu Tode entwickelt« schrieb der ETH-Professor Christian Schmid 2016 in der NZZ. Aktuell versuchen Initiativen den mageren Rest zu retten. Und werden dabei wohl scheitern.

»In einem Quartier passiert das ganze Leben.«
Axel Simon

Doch bleiben wir positiv. Mein Ziel ist in Sicht: das »Kraftwerk1«, ein Genossenschaftskomplex aus braunem Backstein, erdacht Ende der 1990er-Jahre. Rund 250 Menschen leben in den Wohnungen, daneben Büroräume, kleine Läden und Gemeinschaftseinrichtungen. Die Initiatoren, darunter der heutige IBA’27- Intendant Andreas Hofer, nannten ihr Projekt damals noch »Siedlung«. Auch beim Hunziker Areal, dem ambitionierten Nachfolger, waren sie zehn Jahre später beteiligt. »Mehr als Wohnen« hieß die neugegründete Genossenschaft, der Slogan des städtebaulichen Entwurfs: »Quartier statt Siedlung«. Zwar musste man an diesem Leuchtturm im Norden Zürichs noch üben, Gewerbe einzuplanen, doch das Paradigma war gesetzt: Siedlung war einmal. In einem Quartier passiert das ganze Leben. Da wird nicht nur gewohnt, sondern auch gearbeitet. Und gemischt sind dort nicht nur die Nutzungen, sondern auch die Menschen und die Bauten. Deshalb tragen bei der Stuttgarter IBA fast alle Projekte »Quartier« im Namen und keines heißt »Siedlung«. Sie sagen damit: Mischen possible!

Aus Zürich ist die Produktion ausgezogen, in Stuttgart gibt es sie noch: Daimler, Bosch, Porsche, aber auch die Hidden Champions, mittelständische Weltmarktführer. Mein Fahrrad rollt nur dank ihnen: Sein Schaltgetriebe ist von Pinion, der Nabenmotor von Mahle, beides Autozulieferer vom Neckar. Firmen wie diese suchen händeringend nach Produktionsflächen, hatte mir Andreas Hofer erklärt, als ich ihn vor vier Jahren besuchte. Zusammen mit dem Mangel an günstigen Wohnungen bildet diese Nachfrage die Basis seiner IBA-Vision: dem Umnutzen und Ergänzen mächtiger Baukomplexe mit radikal gemischten Nutzungen. Hochschulbauten? Bürotürme? Kliniken? Kann alles zum Quartier werden. Die Zukunft der Region Stuttgart, so das Versprechen, liege nicht im Dienstleistungs- und Finanzsektor – wir wollen ja nicht enden wie Zürich-West. Die Zukunft liegt in der Vergangenheit: in der produktiven Stadt.

Markus Schaefer, könnte das klappen. Als Mitherausgeber des Buches »Industrie.Stadt« hat der Architekt 2021 dafür plädiert, die Produktion weiterhin als Kernaufgabe von Stadtregionen zu sehen. Sie gehöre zur Stadt, auch um die Herausforderungen der Klimakrise anzugehen. Die Produktion der Zukunft ist nicht mehr laut und dreckig, sondern lokal, digital, zirkulär. Seine Hoffnung: Saubere Produktionsweisen, neue Mobilitätskonzepte und regionale Ökonomien können die Herstellungsprozesse wieder zurück in die Stadt holen, natürlich gemischt mit anderen Nutzungen. In diesen selbstorganisierten, produktiven Stadtteilen würde der ökologische Fußabdruck kleiner und die soziale Interaktion größer. Neben Initiativen von San Francisco bis Wien beschreibt er auch solche in seiner Heimatstadt Zürich. Dort preisen die Behörden mit Gewerbeverband und Immobilienbranche die urbane Produktion
als »wichtigen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit der Stadt im 21. Jahrhundert.

»In selbstorganisierten, produktiven Stadtteilen würde der ökologische Fußabdruck kleiner und die soziale Interaktion größer.«
Axel Simon

Und wie sehen diese neuen Quartiere nun konkret aus, in Stuttgart und Region? Die bisher entschiedenen Wettbewerbe gießen die Vision in hoffnungsfrohe Bilder. Für Fellbach sieht eine Studie vor, Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion mit urbanen Manufakturen zu verbinden – ein mutiger Versuch, das riesige, von Agrarindustrie umschlossene Gewerbegebiet zum, nun ja, Quartier zu machen. In Winnenden entwarfen Jott Architekten ein »produktives Stadtquartier« mit urbanen Gewerbehöfen im Grünen, an denen auch gewohnt werden soll. Auch hier Mut: Der bunte Flickenteppich aus Landwirtschaft, Wohnen und Gewerbe erzeugt programmatische Bilder, die sonst säuberlich geschiedene Funktionen munter zusammenpacken. Markus Schaefer schreibt skeptisch: »Zwangsläufig beschränken sich die Nutzungen gegenseitig. Die Skaleneffekte und Effizienzen von getrennt optimierten Nutzungen entfallen. Es entsteht Manufaktur statt Industrie, Gartenbau statt Landwirtschaft.« Wir fragen uns: Ist der Wechsel von Quantität zu Qualität nicht ein notwendiger Schritt in Richtung Weltrettung? Und ist die Krise noch nicht weit genug gediehen, um selbst in »The Länd« die grundlegenden Fragen zu stellen? Oder in Zürich? Sie haben mit Wachstum und Boden zu tun.

Ob die geplanten wilden Mischungen von Winnenden, Fellbach & Co. wirtschaftlich funktionieren, ob sie die lebenswerten Orte schaffen, die wir uns von ihnen erhoffen, und wie sich in ihnen Fahrrad fahren lässt – in vier Jahren werden wir den Antworten einen Schritt näher gekommen sein.

Über den Autor

Bild: Jonas Weibel

Axel Simon, geboren 1966 in Düsseldorf, absolvierte eine Lehre als Schriftsetzer und ein Studium der Architektur an der FH Düsseldorf und der HdK Berlin. Studium der Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich. 1999-2009 Entwurfsassistent an der ETH Zürich (Lehrstühle Axel Fickert, Peter Märkli und Markus Peter) sowie in der Forschung (über den Architekten und Umweltgestalter Eduard Neuenschwander). Ab 1999 Arbeit als freier Architekturjournalist in Zürich. Beiträge für internationale Tages und Fachpresse, Herausgeber von Architekturbüchern, Konzipieren von Ausstellungen, Moderationen, Vorträge. Ausgezeichnet mit dem Swiss Art Award 2006 in der Sparte Kunst- und Architekturvermittlung. Seit 2010 Redakteur für Architektur bei »Hochparterre«, Zeitschrift für Architektur, Planung und Design in Zürich.

Dieser Beitrag ist erschienen in unserem Reader »Stimmen zur Internationalen Bauausstellung StadtRegion Stuttgart«.

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