14.05.24
Stimmen zur IBA’27

Nicht-herrischer Universalismus

Die Lösung für das Problem »Moderne« kann nur selbst modern sein – Weissenhofsiedlung 1927 und Internationale Bauausstellung 2027

von Stephan Trüby

Die Moderne ist eine Bürde, und doch gibt es keine Alternative zu ihr. Verstanden als ein Epochenbruch, der zunächst hervorgerufen wurde durch die Dreifachrevolution der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776, der Französischen Revolution von 1789 und der zunächst in England um 1800 vollzogenen Industriellen Revolution, befremdet die Moderne heute durch ihre Koalitionen mit rassistischem Kolonialismus, bellizistischem Faschismus, patriarchalem Sexismus und allgemein einem Lebenswandelsystem, das den Globus an den Rand einer Klimakatastrophe gebracht hat. Und doch kann es kein Zurück ins vormoderne Paradies geben, welches ohnehin niemals eines war. Ebenso wenig kann es vernünftigerweise ein Beiseitetreten in eine reaktionäre Antimoderne geben, die ihr Heil im mythischen Denken sucht.

»Es geht um eine prozesshafte Kultur des Weiterbauens.«
Stephan Trüby

Beides – gelebte Antimoderne wie ersehnte Vormoderne – macht freilich einen Grundstrom der Gegenwart und ihrer »Rechten Räume«➀ aus. Sie können in vielen westlichen Fällen – in den USA, in
Großbritannien und zunehmend auch in Deutschland – als Produkt eines durchdrehenden wirtschaftsliberalen Konservatismus betrachtet werden, dem angesichts klimatischer Herausforderungen mehr und mehr die Option eines »Weiter so«-Wachstums abhanden kommt. Infolgedessen verlegen sich viele konservative Parteien weltweit auf symbolische Kulturkampf-Themen (»Kampf der Kulturen«, Anti-Abtreibungs- und Anti-Gendersprache-Initiativen, Rekonstruktionen einer »besseren Vergangenheit« etc.) und geraten dabei zuweilen in neofaschistische Fahrwasser. Doch in Anbetracht einer drohenden Klimakatastrophe braucht es mehr denn je eine Perspektive, die das Erbe der Moderne weiterführt, das zwar in den Geruch geriet, Spurenelemente des White-Supremacy-Denkens zu befördern, das aber gleichzeitig eine notwendige terrestrische Perspektive zu stärken vermag. Die Rede ist vom Universalismus. Insofern kann die Lösung für das Problem »Moderne« nur selbst modern sein. Also anti-partikularistisch, anti-kulturessentialistisch und anti-identitär.

Was das mit Architektur zu tun haben könnte, liegt auf der Hand; insbesondere dort, wo die Architektur der klassischen Moderne international am wohl sichtbarsten und folgeträchtigsten ans Licht getreten ist, wo sie aber auch von Anfang an am heftigsten befehdet wurde. Also auf dem Stuttgarter Weissenhof. Zu Recht gilt die dort 1927 eröffnete Weissenhofsiedlung als »Durchbruch eines neuen Baustils«.

»An nur wenigen Orten der Welt prallen Moderne und Antimoderne so vehement aufeinander.«
Stephan Trüby

Vor Ort wurde sie von immerhin 500.000 Ausstellungsbesucher:innen wahrgenommen und festigte Architekten-Kontakte über Ländergrenzen hinweg, so dass sich ein Jahr später, im Juni 1928, im schweizerischen La Sarraz Architekten aus ganz Europa zur Gründung der Vereinigung »Congrès Internationaux d’Architecture Moderne« (CIAM) versammelten. Auch die Werkbundsiedlungen in Brünn (1928), Breslau (1929), Karlsruhe (1929), Wien (1932), Zürich (1932) sowie Prag (1932/33) können als Weissenhof-Inspirationen betrachtet werden. Und nachdem Le Corbusier anlässlich der Fertigstellung seiner beiden Stuttgarter Häuser erstmals seine »Fünf Punkte zu einer neuen Architektur« verschriftlichte, ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass es wohl keine Gebäudeansammlung aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gibt, die die Geschicke ihres Architektur-Säkulums ähnlich verändert hat, wie die Weissenhofsiedlung. Auch via hassender Ablehnung. Denn nur wenige hundert Meter weiter wurde 1933 unter der künstlerischen Leitung des Traditionalisten Paul Schmitthenner die Weissenhof-Antithese »Kochenhof« eingeweiht – mit Steildächern und im Rahmen der Bauausstellung Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung.

Auf halbem Weg zwischen Weissenhof und Kochenhof kam 1933 die von Alfred Daiber im modernen Stil errichtete Brenzkirche zu stehen, die allerdings nur drei Jahre später auf Geheiß der Nationalsozialisten ihr weissenhofartiges Erscheinungsbild hinter einem »arisierten« Traditionskostüm wieder verstecken musste. An nur wenigen Orten der Welt prallen die architektonischen Arme von Moderne und Antimoderne so vehement aufeinander wie auf diesem einen knappen Quadratkilometer, der sich zwischen Weissenhof, Kochenhof und Brenzkirche aufspannt.

Wenn es nun im Rahmen der IBA’27 darum geht, einerseits an die große Tradition von 1927 anzuknüpfen und andererseits Fragen zur »Zukunft des Bauens und Zusammenlebens in einem der wirtschaftlich stärksten Zentren Europas«➁ zu beantworten, so lässt sich dies sicher nicht ohne einen Begriff von Moderne tun. Dies tut auch Andreas Hofer, Intendant der IBA’27 und damit so etwas wie ein Vor-Ort-Nachfolger Mies van der Rohes. Wenngleich ihm nicht beizupflichten ist, wenn er »die Moderne« unscharf auf einen Zeitraum zwischen 1920 und 1970 datiert➂, und wenngleich er ihr in Umkehrung historischer Tatsachen eine Diffamierung »organische[r] und ökologische[r] Alternativen«➃ unterstellt (diffamiert wurde auf dem Weissenhof nur die moderne Architektur, und zwar durch Nationalsozialisten), so ist ihm dennoch zuzustimmen, wenn er dazu aufruft, das »Scheingefecht« zwischen Moderne und Postmoderne, das vor allem die bundesdeutsche Baudebatte jahrzehntelang prägte, endlich zu beenden. Es gelte, sich »den Herausforderungen einer Zukunft zu stellen, die keinen Platz für heroische Neuschöpfungen lässt«.➄

Die Umbaukultur, so Hofer, »muss das reiche Material, das uns 150 Jahre Industriegesellschaft hinterlassen hat, in eine sanfte, ressourcenschonende und weltgerechte Zukunft überführen«. Denn: »Es geht um eine prozesshafte Kultur des Weiterbauens anstelle von baurechtlichen Regeln, die allein auf den Neubau ausgerichtet sind.« Damit hat Hofer für den Bereich Architektur und Städtebau einen wichtigen, nicht-herrischen Ansatz eines neuen, nun mehr kritischen Universalismus formuliert.

Über den Autor

Bild: Uli Regenscheit

Stephan Trüby ist Professor und Direktor des Instituts für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart. Zuvor war er Professor für Temporäre Architektur an der HfG Karlsruhe (2007–09), leitete das Postgraduiertenprogramm MAS Scenography/Spatial Design an der Zürcher Hochschule der Künste (2009–2014), lehrte Architekturtheorie an der Harvard University (2012–2014) und war Professor für Architektur und Kulturtheorie an der TU München (2014–2018). Zu seinen wichtigsten Büchern gehören Exit-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden (2008), Absolute Architekturbeginner: Schriften 2004–2014 (2017), Die Geschichte des Korridors (2018) und Rechte Räume – Politische Essays und Gespräche (2020).

Dieser Beitrag ist erschienen in unserem Reader »Stimmen zur Internationalen Bauausstellung StadtRegion Stuttgart«.


Quellen

➀ Vgl. ARCH+ 230: »Rechte Räume: Bericht einer Europareise«, 2019, und Trüby, Rechte Räume, a. a. O.

➁ https://www.iba27.de/wissen/iba27/

➂ Vgl. Andreas Hofer: »Die Stadt der Zukunft ist gebaut«, in: ARCH+ 248: »Stuttgart – Die produktive Stadtregion«, 2021, S. 138ff.

➃ Hofer, »Die Stadt der Zukunft ist gebaut«, a. a. O., S. 139.

➄ Ebd.

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