Stimmen zur IBA’27
Die Ausnahme und die Regel
Internationale Bauausstellungen nehmen sich Freiheiten im Planen und Bauen – An der Gesetzgebung liegt es, daraus alltägliche Praxis zu machen
von Christian Holl
Es ist eine schon fast routinierte Kritik: Das Bauen in Deutschland ist überreguliert. Regeln verschiedener Art – Normen, Verordnungen, Gesetze – werden eingeführt, erweitert und angepasst, um vermeintlich jeder Situation, jedem Fall, jedem Problem gerecht zu werden. Dabei erzeugen sie doch wieder andere Probleme. Sie verteuern und verlangsamen das Bauen, erschweren den Umbau und die Umnutzung des Bestands, schränken Gestaltungsspielräume ein, verhindern, dass sich neue, aktuellen Bedingungen angemessenere Praktiken durchsetzen. Dass Regeln notwendig sind, stellt dennoch niemand ernsthaft in Frage. Entscheidungen nach geltenden Regeln zu treffen, heißt auch, Konflikte zu vermeiden. Regeln sollen Sicherheit geben, sie synchronisieren Arbeitsabläufe.
Doch Regeln haben noch eine andere Wirkung: Sie schaffen Wirklichkeiten, die ihre Anwendungen in der Praxis erst sinnvoll werden lassen. Sie schaffen Märkte zur Anwendung von Produkten und damit ein System, in dem Produkte erst durch ihre Normierung angewendet werden können. Produktion, Abläufe, Verfahren entwickeln sich miteinander und greifen ineinander. Die Förderung des Eigenheims, die Normierung der Wohnung schaffen einen Markt, der genau das erfüllt, was die Regel zu behandeln scheint – erst so wird deren enorme Wirkung erzeugt. Regeln dienen wirtschaftlichen Interessen und bringen sie gleichzeitig hervor. Sie schaffen Rechtssicherheit und bieten dabei gleichzeitig die Angriffspunkte, die dazu verleiten, juristische Mittel anzuwenden. Das erzeugt wiederum ein Klima potenziellen Misstrauens, das die Befolgung von Regeln erst recht erzwingt.
All dies sorgt dafür, dass die Regeln, die das Bauen bestimmen, träge sind. Zu träge. »Die DIN hinkt der Praxis teilweise um Jahrzehnte hinterher«, so etwa der Architekt Peter Grundmann.➀ Einfach eine Deregulierung zu fordern, wird daran nichts ändern, wenn wir nicht »die Konflikte, die Normen zu regeln vorgeben, in den Fokus nehmen, seien sie technischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Natur«.➁
An dieser Stelle kommt die IBA ins Spiel. Ist sie ein Instrument, das geeignet sein könnte, die strukturkonservative Wirkung der Regulierung zu brechen? Eine IBA ist kein geschütztes Format, sondern, wie es in einem Forschungsprojekt des BBSR heißt, »ein Innovationsprozess, den Akteure vor Ort ausrufen und sich selbst auferlegen«.➂ Es ist nicht möglich, einen Innovationsprozess einzuleiten, ohne damit die Frage zu verbinden, ob die Regeln, nach denen wir vorgehen, noch geeignet sind, auf die Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren. Entscheidend ist, dass die Akteure der IBA die gleiche Auffassung von dem Innovationsprozess haben, dem sie sich verpflichten.
Genau hier werden also die entscheidenden Weichen gestellt. Es könnte sich als ein Mangel erweisen, wenn die Frage nach den das Bauen bestimmenden Regeln nicht explizit thematisiert wird – und ein Aushandeln der Frage, wie mit Regeln umgegangen wird, nicht als eine gemeinsame Grundlage des IBA Prozesses verstanden wird. Da sich die IBA über Projekte definiert, die erst im Laufe des Prozesses gefunden werden, finden sich dann auch erst die Akteure zusammen, die über den Erfolg der IBA entscheiden. Ist der Innovationsprozess nicht ausreichend präzise formuliert, lassen sich neu hinzukommende Akteure nur schwer darauf verpflichten. Die Frage stellt sich daher, ob – auch im Falle von Stuttgart – diese Vorarbeit, die der Einsetzung der IBA und deren Intendanten hätte vorausgehen müssen, in Bezug auf den Umgang mit Regeln gründlich genug geleistet wurde.
Die Leistung der IBA’27 liegt bisher darin, Vorschriften nicht gehorsam überzuerfüllen, sondern die Freiheiten, die sie lassen, zu nutzen – insbesondere in der Gestaltung der Verfahren, die in Deutschland unter einer bedrückenden Verengung der Möglichkeiten leiden. Die IBA’27 initiierte offene Wettbewerbe, Wettbewerbe mit jungen Büros, kooperative Verfahren, die je nach Aufgabe gewählt werden. Sie zeigt, welche Potenziale neue Bauweisen und Nutzungskombinationen haben könnten. Die IBA’27 nimmt damit die Rolle des Intermediärs ein, der Entwicklungen so betreut, dass Regeln unter dem Aspekt behandelt werden, wie sie die Potenziale einer zukunftsweisenden Praxis aktivieren. Dabei können die Prozesse der Umsetzung von Projekten hilfreich sein, auch darin, dass sie sichtbar machen, wo die Verwirklichung zukunftsweisender Ansätze durch die Regeln behindert wird. Es ist nicht einfach, das so zu kommunizieren, dass die Behinderung durch Regeln nicht als Defizit der IBA, sondern als Erkenntnisgewinn aus deren Arbeit gesehen wird. Genau darauf aber käme es an.
Die steigende Zahl von IBAs der letzten Jahre ist ein Hinweis darauf, dass im Alltag der Planung und Praxis ein solcher Intermediär fehlt und die systemische Zwangsjacke ohne ihn nicht loszuwerden ist. Als Ausnahmezustand auf Zeit kann die IBA aber nicht zur Regel werden, weil sie dann genau die Rolle verlässt, die ihre Qualität ausmacht. Noch mehr IBAs sind keine Lösung. Es liegt in der Verantwortung anderer, die Fragen und Konflikte, die die Bauausstellungen aufwerfen, weiter zu verfolgen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Es bedarf also nicht nur eines Einverständnisses der Akteure vor Ort, sondern auch der Bereitschaft jenseits der IBAs, aus ihr Erkenntnisse zu gewinnen, ohne die ein anderer, produktiverer Umgang mit Regeln nicht möglich sein wird.
➀ Wir bauen selbst. Peter Grundmann im Gespräch mit Anh-Linh Ngo. In: Arch+ Nr. 251, 2023, S. 65
➁ Anh-Linh Ngo et al.: Norm-Architektur. In: Arch+ Nr. 233, 2018, S. 1 Christian Holl Foto: Jason Sellers
➂ Forschungsprojekt: IBA als Katalysator für Exzellenz in der Stadt- und Regionalentwicklung. Bundesinstitut für Bau- , Stadt- und Raumforschung BBSR 18. Mai 2023
Über den Autor
Christian Holl ist freier Autor und Publizist, Kurator und Mitglied des Ausstellungsausschusses an der Stuttgarter Architekturgalerie am Weißenhof sowie Geschäftsführer des BDA Hessen. Nach dem Studium der Architektur an der RWTH Aachen, der Università degli Studi di Firenze und der Universität Stuttgart arbeitete er als Redakteur bei der db deutsche bauzeitung, gründete 2004 mit Ursula Baus und Claudia Siegele frei04 publizistik, war von 2005–10 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Städtebau Institut der Universität Stuttgart. Er nahm verschiedene Lehraufträge wahr. Mit Ursula Baus und Claudia Siegele gibt er das seit 2017 erscheinende eMagazin Marlowes heraus. 2021 wurde Marlowes mit einer Besonderen Auszeichnung beim BDA-Preis für
Architekturkritik ausgezeichnet.
Dieser Beitrag ist erschienen in unserem Reader »Stimmen zur Internationalen Bauausstellung StadtRegion Stuttgart«.