Vorhaben im IBA’27-Netz
Gartenstadt neu interpretiert: Siegerentwurf zum Esslinger Tobias-Mayer-Quartier
Das Tobias-Mayer-Quartier im Esslinger Stadtteil Hohenkreuz soll in den kommenden Jahren zu einem zukunftsfähigen und vielfältigen Wohnquartier mit bezahlbarem Wohnraum werden. Als Vorhaben im Netz der IBA’27 wird es von der Esslinger Wohnungsbaugesellschaft (EWB) und der Baugenossenschaft Esslingen (BGE) unter aktiver Beteiligung der Bürgerschaft entwickelt. Rund 350 Menschen haben sich bisher an dem Verfahren beteiligt. Ihre Ideen, Wünsche und Erwartungen wurden in Bürgerwerkstätten, Themenworkshops und Vor-Ort-Aktionen erfasst, diskutiert und in den Leitsätzen »Wohnen und Leben in künftigen Quartier« gebündelt. Die Leitsätze flossen als Teil der Aufgabenstellung in den zweiphasigen kooperativen Realisierungswettbewerb ein.
Ende September 2021 haben die elf beteiligten Architekturbüros in der Alten Kelter in Wäldenbronn ihre Entwürfe zur ersten Phase der Öffentlichkeit präsentiert. Interessierte Bürgerinnen und Bürger konnten sich ein Bild davon machen, wie das etwa drei Hektar große Areal zwischen der Tobias-Mayer- und der Palmstraße bebaut werden könnte. Am Folgetag kam das Preisgericht in nicht-öffentlicher Sitzung zusammen. Das Votum der Juroren fiel eindeutig aus: Mit null Gegenstimmen landete der Entwurf von StudioVlayStreeruwitz auf dem ersten Platz.
Das in Zusammenarbeit mit der Landschaftsarchitektin Carla Lo konzipierte »Roberto H. Migge Universum« stellt mit der »Sinnlichkeit der Gestaltung«, dem »Ausleben unterschiedlicher Wünsche« und der »Pflege sozialer Solidarität« drei Qualitäten ins Zentrum, die das Konzept der Gartenstadt neu interpretieren und fortschreiben. Dafür platzieren die Planerinnen und Planer die Bauvolumen um ein großzügiges, phantasievoll erdachtes, gemeinschaftliches Gartenfeld herum an den Rändern des Areals.
Die Architekten schlagen für den westlichen und den östlichen Rand zwei unterschiedliche Typologien vor, die Effizienz, Flexibilität und eine hohe Wohnqualität versprechen. Bei den sogenannten Kettenhäusern auf der Ostseite verbinden laubengangähnliche Stege drei bis vier Bauvolumen. Zwei Aufzüge und zwei Treppenhäuser reichen für die Vertikalerschließung der ganzen Kette. In den Kopfbauten erschließen die Stege Punktbauten mit drei Wohnungen oder eine Großwohnung, in den mittleren Gebäuden sind Kleinwohnungen oder experimentelle Wohntypologien möglich, die entweder an einem Mittelgang oder einer vorgesetzten Laube liegen. In den Erdgeschossen befinden sich gemeinschaftliche Räume, die Kita, Ateliers und gegen Nordosten, vom Park abgewandt, weitere Kleinwohnungen.
Den westlichen Rand entlang der Tobias-Mayer-Straße besetzen vier winkelförmige Volumen. Entlang der Straße sind die Gebäude vier- bis fünfgeschossig, zum Park wachsen sie – abgerückt von der Straße und orientiert zum weiten Innenraum – auf acht Geschosse heran. Circa 50 ganz unterschiedliche Wohnungen pro Winkel benötigen im Erdgeschoss so viel Erschließungs-, Fahrrad- und weitere Abstellfläche, dass auf Erdgeschosswohnungen am öffentlichen Hof verzichtet werden kann und ein nobles und attraktives Foyer entsteht.
Prof. Dr. Franz Pesch, Vorsitzender des Preisgerichts, ist voll des Lobes: »Unter elf hervorragenden Projekten hat ein Betrag das Preisgericht begeistert. Das Wiener Team Bernd Vlay und Lina Streeruwitz konzentriert die Wohnungen auf zwei gegliederte Gebäudereihen und hält die Mitte des Quartiers frei für einen Park«, sagt Pesch. »Diese grüne Lunge garantiert attraktives Wohnen, ist aber zugleich eine Einladung an die Bewohner des Stadtteils. Die faszinierende Verbindung von Vision und Umsetzbarkeit würdigt die Jury einstimmig mit dem 1. Preis.«
EWB-Geschäftsführer Hagen Schröter und Christian Brokate, Vorstandsmitglied der Baugenossenschaft Esslingen, zeigen sich mit dem Ausgang des Architektenwettbewerbs ebenfalls zufrieden: »Wir sind glücklich über den innovativen Entwurf«, sagen Schröter und Brokate. »Hier werden qualitätsvolle Frei- und Grünflächen mit notwendigem Wohnraum kombiniert. Der Entwurf schafft es, Bürgerinteressen und die Interessen der Unternehmen in Einklang zu bringen.«
»Seitens der Stadt begrüßen wir die Entscheidung des Preisgerichtes, da der prämierte Entwurf unsere grundsätzlichen Anforderungen an künftige Quartiersentwicklungen in hervorragender Weise umsetzt«, sagt Hans-Georg Sigel, Baubürgermeister Stadt Esslingen. »In unserem Stadtkompass Esslingen 2027 bekennen wir uns unter anderem zum Prinzip der doppelten Innenentwicklung. Das heißt, bei der Wiedernutzung von Brachen oder – wie in diesem Fall – bei der Nachverdichtung von Quartieren, ist die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum immer auch verbunden mit dem Erhalt oder der qualitativen Entwicklung, Aufwertung und Vernetzung von Grünflächen. Nur so gelingt es, diese Quartiere künftig besser an den Klimawandel anzupassen.«
Andreas Hofer, Intendant der IBA’27 und einer von neun Preisrichterinnen und Preisrichtern, ist ebenfalls begeistert. »Der Entwurf von Vlay Streeruwitz ist ein poetisches Gesamtkunstwerk. Gärten, Höfe, Lichtungen und Wäldchen feiern nachbarschaftliche Solidarität und Zusammenleben, Häuser und Wohnungen reagieren mit größtmöglicher Flexibilität und Offenheit auf unterschiedliche Lebenssituationen und Anforderungen«, so Hofer. »Bauweise, Energie- und Mobilitätskonzept des neuen Quartiers zeigen, dass die Versöhnung von Mensch und Natur keine Utopie sein muss. Sie rückt im ›Roberto H. Migge Universum‹ in greifbare Nähe.«
Das Preisgericht hatte neben dem IBA-Intendanten eine weitere Besonderheit aufzubieten: Die beiden Bürgerausschüsse Wäldenbronn, Hohenkreuz, Serach, Obertal (WHSO) und St. Bernhardt waren durch das Beteiligungsverfahren nicht nur von Anfang bei der Planung für das Tobias-Mayer-Quartier eingebunden, sondern auch mit einer Stimme bei der Entscheidungsfindung vertreten: »Wichtig war uns, dass hier ein klimagerechtes, offenes Quartier mit qualitativ guten Wohnungen zu fairen Preisen für unterschiedliche Zielgruppen entsteht«, sagt Roswitha Rostek, Vorsitzende des Bürgerausschusses WHSO. Werner Strauss, Vorsitzender des Bürgerausschusses St. Bernhardt, ergänzt: »Wichtig ist uns ein Mobilitätskonzept, damit die angrenzenden Gebiete nicht noch mehr belastet werden. Hier setzt das Siegerbüro auf das Prinzip der kurzen Wege im Gebiet für Rad- und Fußverkehr, E-Bike-Flotte im Gebiet, lokales Carsharing, Sammelstelle für Paketboxen, Lastenfahrräder in einem Mobilitätszentrum, leicht erreichbare und geschützte Fahrradabstellplätze«, sagt Strauss. »Unabhängig davon müssen natürlich auch ausreichend Stellplätze für Autos nachgewiesen werden.«
Den dritten Platz teilen sich mit Wittfoht Architekten und LEHENdrei zwei Büros aus Stuttgart. Im Januar 2022 geht der Dialogprozess in die zweite Phase. Bis dahin ist es Aufgabe der verbliebenen drei Büros, auf Grundlage des Siegerentwurfes weiter zu planen. Die Ergebnisse dieses zweiten Verfahrensbausteins werden dann erneut der Öffentlichkeit und einem Preisgericht vorgestellt. Baubeginn des ersten Bauabschnitts ist voraussichtlich im Juli 2023.
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